"Kandel ist überall"

Verfassungsschutz und Rassismus: Verkannte Angriffe auf die Menschenwürde

Bei den in diesen Tagen stattfindenden Aktionswochen widmen sich quer durchs Land Veranstaltungen dem Kampf gegen Rassismus. Ein Beispiel aus Baden-Württemberg zeigt indes, dass der Verfassungsschutz es dort nicht für notwendig hielt, die rassistische Gruppierung „Kandel ist überall“ selbst in der Hochphase zu beobachten. Eine Nachbetrachtung.

Donnerstag, 21. März 2024
Thomas Witzgall
Aus Sicht des Autors war die Nicht-Beobachtung der Gruppierung „Kandel ist überall“ durch den Verfassungsschutz ein Fehler.
Aus Sicht des Autors war die Nicht-Beobachtung der Gruppierung „Kandel ist überall“ durch den Verfassungsschutz ein Fehler.

Wie wohl keine andere Gruppe außerhalb des organisierten Neonazismus hat das nach der Stadt in Rheinland-Pfalz benannte Bündnis „Kandel ist überall“ seine rassistischen Vorstellungen zu Papier gebracht.

Gegründet hatte sich die Initiative nach einem Femizid Ende 2017. Ein junger Geflüchteter aus Afghanistan hatte seine ehemalige Freundin mit einem Messer ermordet. Damit passte die Tat ins Raster rassistischer Akteure. Bei vergleichbaren Taten, etwa dem Mord eines in den Medien als „Adrian K.“ bezeichneten Täters im baden-württembergischen St. Leon-Rot Anfang 2024, bei dem der junge Mann nach der Tat noch die Mutter des Opfers anrief und die zynische Botschaft „Mich verlässt niemand“ hinterließ, sind dagegen keinerlei Aktivitäten von rechts bekannt.

Assimilationszwang

Auf einer Großdemonstration mit 6.000 Teilnehmenden im März 2018 veröffentliche die Gruppe „Kandel ist überall“ ihr Manifest als grundlegende Positionierung und Selbstbeschreibung. Aus dieser spricht recht eindeutig ein ethnischer Volksbegriff, der im eindeutigen Widerspruch zu den Kernprinzipien der freiheitlichen Demokratie steht.

2018-03-03 Kandel (ausführliches Album)

Die Gruppe forderte zur „Bewahrung der kulturellen Identität des deutschen Volkes“ ein Bauverbot für Moscheen und Eingriffe in die Religionsausübung einer der drei monotheistischen Weltreligionen sowie den „Stopp jedweder Zuwanderung“. Die Bundesrepublik solle zum Abstammungsprinzip zurückkehren, doppelte Staatsbürgerschaften sofort abgeschafft werden und entgegen dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Einbürgerungen nur nach vollständiger Assimilation möglich sein.

Ungleichwertigkeit von Menschen

Dass von außerhalb Europas stammende Migranten, besonders wohl aus Afrika, dem Nahen Osten oder Asien, per se davon ausgenommen sein sollen, zeigt besonders deutlich Forderung Nummer acht. Es müsse eine breite Information an die Bevölkerung über „die unüberwindlichen kulturellen Unterschiede zwischen Europäern und nicht-westlichen Migranten“ geben. Ungleichwertigkeit in einer absoluten Kategorie.

In diese Richtung dürften auch Ausführungen von Martin Sellner und anderen Akteuren zu verstehen sein, wenn sie im Vorfeld und Nachgang der Geheimkonferenz von Potsdam davon sprechen, angeblich „integrationsunwillige und -unfähige Migranten“ mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit sollten das Land verlassen müssen. Diese und noch weitergehende Vorstellungen prägen seit Jahren die politischen Tätigkeiten eines Martin Sellner.

Verstoß gegen Menschenwürde?

Erst im Januar 2017 hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Nicht-Verbot der NPD deutliche Aussagen getroffen, wonach ein ethnisch gebildetes Volksverständnis – darauf laufen die Vorstellungen des Kandel-Bündnisses zielsicher hinaus – einen Verstoß gegen Menschenwürde und Demokratieprinzip darstelle.

„Der von ihr [NPD] vertretene Volksbegriff negiert den sich aus der Menschenwürde ergebenden Achtungsanspruch der Person und führt zur Verweigerung elementarer Rechtsgleichheit für alle, die nicht der ethnischen „Volksgemeinschaft“ angehören“, so die Karlsruher Richter. Wer ein solches Konzept verfolgt, missachtet auch das Demokratieprinzip, die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger. Beim Thema Einschnitte in die Religionsausübung ging das Bündnis sogar noch über das hinaus, was die Karlsruher Richter damals der NPD vorhielten, deren Forderungen nach „Abriss aller Minarette“ Eingang ins Kapitel „Diskriminierung von religiösen und gesellschaftlichen Minderheiten“ im Urteil fand.

Verfassungsschutz sieht keinen Grund für Beobachtung

Oder kurz gesagt: Wäre „Kandel ist überall“ eine Partei, wäre sie nach den kurz vorher aufgestellten Kriterien des Bundesverfassungsgerichts mit Blick auf das Tatbestandsmerkmal „Beseitigen der Freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ verbotswürdig. Weitere inhaltliche Prüfungspunkte bedürfe es nicht mehr, sondern nur noch handlungsbezogene, wie das planvolle daraufhin arbeiten und die Möglichkeit des Erfolgs (Potentialität).

Wer sich allerdings von den damals aktualisierten Ausführungen der obersten Verfassungshüter nicht angesprochen fühlte, waren offenbar die dazu berufenen Verfassungsschützer. Wegen des Sitzes der Gruppe in Stuttgart wäre wohl das Landesamt in Baden-Württemberg zuständig. Auf Rücksprache beim Landesamt führt ein Sprecher aus, dass es sich um kein Beobachtungsobjekt handele. Dem Amt sei bekannt, dass das Thema Migration und besonders tatsächliche und vermeintliche Straftaten durch Geflüchtete der rechtsextremistischen Szene dazu dienten, zu mobilisieren und Anschluss an Personen aus nichtextremistischen Szenen zu knüpfen.

Behörde sieht lediglich „Kritik an Asyl- und Migrationspolitik“

Auch auf Rückfrage mit Hinweis auf den grundlegenden Charakter eines Manifests, auf die Schwere des Verstoßes gegen die Grundprinzipien der Verfassung und dass sich Forderungen explizit gegen die Würde deutscher Staatsbürger muslimischen Glaubens und außerhalb Europas Geborene richte, führte zu keiner anderen Sicht.

Auch das Landesamt in Rheinland-Pfalz teilte mit Verspätung mit, die Gruppe selbst in der Hochphase ihrer Aktivitäten nicht beobachtet zu haben, wobei die inhaltliche Ausrichtung trotz der Angriffe auf die Menschenwürde als vornehmliche „Kritik an der Asyl- und Migrationspolitik“ der Bundesregierung eingeordnet wurde. Die Antworten beider Landesämter klingen nach hinzunehmenden Aktivitäten an der Grenze zwischen demokratisch und extremistisch. Ähnlich kritisch lesen sich gelegentlich Pressemitteilungen der Polizei, die bei rassistisch motivierten Straftaten die gedankliche Rechtfertigung des Täter widerspiegeln, wenn sie von „ausländerfeindlichen“ bzw. „fremdenfeindlichen Taten“ sprechen, die auch Deutsche treffen könnten.

Versuch einer Reakivierung

Auf der Webseite führt das Landesamt in Stuttgart zum Beobachtungsauftrag aus, dieser sei erst eröffnet, wenn Freiheiten missbraucht würden, „Grundprinzipien der Verfassung außer Kraft zu setzen“, wobei auf die im Urteil von 1952 zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei entwickelten Merkmale der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (fdGO) Bezug genommen wird. Die vom Bundesverfassungsgericht 2017 aktualisierten Kriterien um Menschenwürde, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sind qua Definition hier nochmal als engerer und strengerer Prüfungsmaßstab anzusehen, die somit erst recht als Verstoß gegen die fdGO anzusehen sind.

Momentan käme eine Beobachtung von „Kandel ist überall“ wegen ausbleibender Aktivitäten nicht in Betracht. Auch wenn sich die Organisation bisher nicht aufgelöst hat und jederzeit reaktiviert werden könnte. Versuche gab es etwa nach dem Mord an einer Schülerin in Illerkirchberg. In Bayern nutzten etwa der AfD-Bezirksvorsitzende von Unterfranken, Richard Graupner und das nichtberufsrichterliche Mitglied am bayerischen Verfassungsgerichtshof, Rüdiger Imgart, die Organisation als Plattform für Veranstaltungen. Im oberbayerischen Lenggries verhinderte ein Aufmarsch eine Integrationsveranstaltung. Mit der damaligen Großdemonstration mit 6.000 Teilnehmenden, wenn auch aus der ganzen Republik angereist, dürfte die Gruppe allein mit der Veranstaltung mehr Zuspruch erhalten haben als andere beobachtete Gruppen in jahrelanger Tätigkeit zusammen.

AfD-Politikerinnen in erster Reihe

Am Fronttransparent zeigten sich damals die Höcke-Vertraute und AfD-Politikerin Christina Baum sowie die heutige bayerische AfD-Landtagsabgeordnete Elena Roon. Die ebenfalls in der Partei aktive Pressesprecherin arbeitete zuletzt für einen bayerischen Landtagsabgeordneten und wurde somit bei der sich rein auf die Einstufungen des Verfassungsschutz verlassenden Zählung von Personen aus gesichert rechtsextremen Organisationen nicht mitgezählt.

Durch die nie aufgenommene Beobachtung konnten sich auch etwaige Beamte in den Reihen von „Kandel ist überall“ ohne Probleme beteiligen, während ihre Organisation gegen Kernprinzipien der Verfassung verstieß. Konsequenzen gab es nur für eine Förderschullehrerin aus dem nahegelegenen Landau, die als selbsternannte „Stimme aus Kandel“ im Sinne der extrem rechten Initiative agierte. Sie gehörte laut einer rechtsgerichteten Zeitung allerdings nicht „Kandel ist überall“ direkt an, sondern einer thematisch verwandten Gruppe. Die Entlassung soll sich rein auf ihre Äußerungen auf Social Media bezogen haben.

Zusammenfassend wirft das Beispiel Fragen auf, ob in den Verfassungsschutzämtern beim Thema Angriff auf die Menschenwürde von Migranten mit der dafür notwendigen Sorgfalt vorgegangen wird, wenn selbst so eindeutige Fälle wie  „Kandel ist überall“ nie zu einer Beobachtung führten.

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