Krawallig erfolgreich

Sechsjahresplan der AfD: Radikale Opposition, aber keine Koalitionen

Mitte 2019 entstand ein internes Strategiepapier, das der AfD den Weg zur „respektierten Volkspartei“ ebnen sollte. Trotz Radikalisierung, Beobachtung durch den Verfassungsschutz, Corona-Pandemie und einigen Skandalen konnte die Partei einige Vorhaben zumindest ansatzweise umsetzen – wenn auch teils anders als ursprünglich skizziert.

Montag, 29. Juli 2024
Michael Klarmann
Ziel: Volkspartei (c) Michael Klarmann
Ziel: Volkspartei (c) Michael Klarmann

Trotz ihrer Radikalisierung will die AfD eine normale Partei sein. Mitte 2019 erschien das Papier „Strategie 2019 - 2025. Die AfD auf dem Weg zur Volkspartei“. Es wurde intern breit rezipiert. Der Sechsjahresplan skizziert, wie sich die AfD als bürgerliche Partei inszenieren kann. Erste daraus resultierende Veränderungen in der Außendarstellung konnten bei den Landtagswahlen 2019 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen beobachtet werden. 

So sprachen führende Köpfe gegenüber Medienvertretern durchweg von der AfD als bürgerlicher, nationalkonservativer und klassischer Volkspartei. Immer wieder wurde bestritten, etwas mit  Rechtsradikalismus oder gar Rechtsextremismus zu tun zu haben. Bei der NPD nannte man diese Taktik vor Jahren seriöse Radikalität. Aber auch die AfD pendelte damals wie heute zwischen Kümmerer- und radikaloppositioneller Bewegungspartei.

„Marsch durch die Organisationen“

Das Strategiepapier von 2019 umreißt den angestrebten Weg, sich künftig als national- und bürgerlich-konservative Partei zu präsentieren und einen „Imagewandel“ hin zur „liberal-konservativ-patriotische[n] Volkspartei“ zu vollziehen. Das Papier schlägt vor, dass die AfD und ihre Mitglieder bis zur Bundestagswahl 2025 in Vereine, Stadtteil- und Nachbarschaftsgruppen, Bürgerinitiativen und Gewerkschaften vordringen sollten. Dort gehe es darum, sich zu etablieren und so quasi (als) Teil der akzeptierten Bürgergesellschaft (wahrgenommen) zu werden.

AfD - Alternative für Deutschland
AfD - Alternative für Deutschland

„Ähnlich wie es der 68er-Bewegung um einen ,Marsch durch die Institutionen‘ ging, muss es auch der AfD um den ,Marsch durch die Organisationen‘ gehen“, heißt es in dem Papier. Dabei müsse man sich in Themen einarbeiten und wahrgenommen werden als Engagierte, die auch konstruktiv mitwirken könnten.

Pazderskis „Alternative zu den Altparteien“

Einer der Hauptautoren war Medienberichten zufolge der damalige stellvertretende AfD-Parteivorsitzende und Berliner Landeschef Georg Pazderski. Er verließ die AfD in diesem Frühjahr desillusioniert. Gegenüber der NZZ begründete Pazderski seinen Austritt damit, dass Deutschland seiner Meinung nach weiterhin eine „Alternative zu den Altparteien“ brauche. Der AfD sei es aber „leider nicht gelungen, diese Rolle zu übernehmen.“ Pazderski folgte damit dem ehemaligen Parteichef Jörg Meuthen, der die AfD Anfang 2022 verlassen hatte. „Die Radikalen haben die AfD übernommen“, sagte Meuthen damals.

Innenminister Herrmann bei der Vorstellung der Halbjahresinformationen des Verfassungsschutzes. Der von ehemaligen Flügel-Anhängern dominierte Landesverband ist nun auch mal im bayerischen Verfassungsschutzbericht angekommen.
Innenminister Herrmann bei der Vorstellung der Halbjahresinformationen des Verfassungsschutzes. Der von ehemaligen Flügel-Anhängern dominierte Landesverband ist nun auch mal im bayerischen Verfassungsschutzbericht angekommen.

Mehrere Verfassungsschutzämter konterkarierten die neue AfD-Strategie von 2019 mit Hinweisen auf rechtsextremistische Bestrebungen in der Partei. Dennoch erkannte man Inhalte dieser Strategie im Programm der AfD für die Bundestagswahl 2021. Es trug den Titel: „Deutschland. Aber normal.“ Offensichtlich glaubte die Partei damals, die Normalität im Land bereits definieren zu können. Bundesweit erreichte sie bei dieser Wahl 10,3 Prozent der Stimmen.

Neue Herausforderungen und Propagandagold

Seitdem folgten: Negativschlagzeilen wegen des „Potsdamer Treffens“ und der Spitzenkandidaten für die Europawahl 2024; eine stetige Radikalisierung und Enthemmung sowie die Verbotsdebatte; trotz der formalen Auflösung des Höcke-Flügels hat das völkische Lager stark an Einfluss gewonnen; die Einstufung von Landesverbänden und der Bundespartei als wahlweise rechtsextrem oder als Rechtsextremismus-Verdachtsfall; die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine schufen neue Herausforderungen – und neues Propagandagold.

2019 hatte die AfD rund 35.000 Mitglieder. Weitere Radikalisierung, Abspaltungen und Flügelkämpfe sowie unter anderem der Rückzug Meuthens ließen die Zahl auf weit unter 30.000 sinken. Heute steuert die AfD auf 50.000 Mitglieder zu, bei der Europawahl 2024 erreichte sie bundesweit knapp 16 Prozent und wurde damit zweitstärkste Kraft.

Spitzenplatz im Osten

In den ostdeutschen Bundesländern erreicht die AfD oft deutlich höhere Prozentzahlen und ist dort teilweise bereits stärkste Partei. Zumindest von den Wahlerfolgen her rückt sie dem Status einer „Volkspartei“ näher. Zudem gibt es Befürchtungen, dass sie bei den nächsten Landtagswahlen die dominierende Partei in ostdeutschen Landtagen werden und einen Ministerpräsidenten stellen könnte.

Doch das Strategiepapier wollte mehr. Laut dem 72-seitigen Dokument soll die AfD 2025 bundesweit „mindestens“ 20 bis bestenfalls 30 Prozent der Wählerstimmen erreichen, Mitglieder hätte sie dann gerne 70.000. Eines der wichtigsten Vorhaben im Strategiepapier: bürgerlich wirken, nicht mehr als radikale Opposition auftreten und agieren, vor allem aber politisch reifen und koalitionsfähig werden. Ausblick: In den ersten Landesparlamenten soll die AfD am Ende des Sechsjahresplans bestenfalls schon eine Minderheitsregierungen tolerieren oder sogar Teil einer Regierung sein. 

„Holzhammermethoden“ und „Attacken unter der Gürtellinie“

Nichts davon ist bisher wirklich eingetreten, und die AfD erscheint heute als rechtsradikale, in Teilen offen rechtsextreme Radikalopposition. Im Strategiepapier hieß es noch, man wolle das „konservativ-liberale Bürgertum in der politischen Mitte und rechts davon“ erreichen. Man müsse selbst bürgerlich und konservativ auftreten, weil gerade Menschen aus dem Bürgertum von Extremismus und Radikalismus abgeschreckt würden. Gewarnt wurde vor „rhetorische[n] Querschläger[n], Hasstiraden und sinnlose[n] Provokationen“ sowie vor „Holzhammermethoden, Hetze und Attacken unter der Gürtellinie“. Doch es kam anders.

Zwar schreckt die AfD mit ihren Aktionen frühere Interessierte ab – inzwischen ist aber deutlich geworden, dass sich die vorhandenen Mitglieder weiter radikalisiert haben und neue Anhänger und Wähler sich daran nicht mehr stören. Letztere wissen oft sehr genau, wen sie wählen – und vor allem: Warum sie das tun. Die Aussicht, eine „Volkspartei“ zu werden, ging also nicht mit einem bürgerlich-moderaten, sondern mit einem radikal-oppositionellen Auftreten einher.

„Irgendwelche zusätzlichen Krisenpotentiale“ erschaffen

Fast schon realsatirisch lesen sich heute die Pläne zum Thema Europa. Hier sah man 2019 im Strategiepapier Chancen, sich zu etablieren und mit anderen Parteien des rechten Spektrums netzwerkfähig zu werden. Internationale Kooperationen seien wichtig, hieß es weiter, aber mit welchen anderen Parteien man sich vernetze, entscheide der Bundesvorstand. Gewarnt wurde parteiintern vor „irgendwelchen vorpreschenden Einzelpersonen“. Ziel müsse es sein, „die AfD [so] stärker zu machen, nicht irgendwelche zusätzlichen Krisenpotentiale zu schaffen, die die AfD belasten können oder Ressourcen zu verschwenden.“

Bei der Kandidatenkür 2023 in Magdeburg agierte die Partei eher anders. Der extrem rechte Flügel konnte radikalisierte und völkische Kandidaten durchsetzen und platzieren. Vor allem Maximilian Krah und Petr Bystron sorgten in der Folge für die Schlagzeilen, vor denen manche in der Partei zuvor schon gewarnt hatten. Heute steht die AfD im Europaparlament eher isoliert da, musste mit Splitterparteien eine Fraktion bilden. Es ist genau das eingetreten, wovor im Pazderski-Papier gewarnt wurde.

Warnung vor radikalen und prorussischen Äußerungen

Auch distanzierte man sich in dem Papier, das der Bundesvorstand schließlich in weiten Teilen verabschiedete, deutlich von radikalen und prorussischen Äußerungen aus den eigenen Reihen. Dies sei auch deshalb notwendig, weil im konservativen Bürgertum „die NATO und die USA immer noch als wesentliche Garanten für Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa“ angesehen würden.
 

Nach Corona das nächste Straßenthema der AfD: "Frieden" zum Vorteil Putins
Nach Corona das nächste Straßenthema der AfD: "Frieden" zum Vorteil Putins

„Dumpfer Anti-Amerikanismus und überbordende, unkritische Russland- und Putin-Verehrung, wie sie auch in der AfD zu finden sind und von Einzelnen sogar öffentlich gelebt werden, schreckt diese Wählerschicht ab“, hieß es in dem Strategiepapier. Heute wirken weite Teile der AfD wie das genaue Gegenteil davon, was Pazderski und letztlich auch der im Spätsommer 2019 zustimmende Bundesvorstand anvisierten.

Kein Grund für Häme und Spott

Häme und Spott wären allerdings unangebracht, weil die AfD wichtige Vorhaben aus dem Strategiepapier 2019 bis zur nächsten Bundestagswahl wohl nicht erreichen wird. Schmerzlich dürfte sein, dass die Mitgliederzahl nicht auf 70.000 gestiegen ist – bedeutet dies doch auch, dass die Parteibasis noch schwächelt und man in einigen westdeutschen Regionen noch immer nicht flächendeckend bei Kommunalwahlen antreten kann.

Andere Punkte des Papiers von 2019 lassen hingegen aufhorchen und wurden ansatzweise umgesetzt. Erlebten die rechts-„alternativen“ Medien erst während der Pandemie einen regelrechten Boom, empfahl das Strategiepapier noch, dass die Partei die sozialen Medien weiter intensiv bespielen müsse. Dort ist die AfD kampagnenfähig, kann politische Gegner, Parteien, Behörden und Institutionen massiv unter Druck setzen – nunmehr auch flankiert von den neuen rechts-„alternativen“ Medien.

Den Sprachgebrauch verschieben

Bereits im Pazderski-Papier von 2019 wurde zudem darauf hingewiesen: Wenn die AfD weiter wachsen wolle, müsse man immer wieder auch Begriffe prägen und Meinungskampagnen initiieren. Mit Stolz wurde darauf verwiesen, dass man in der Vergangenheit politische Kampfbegriffe wie „Altparteien“ geprägt habe – die unterdessen in den breiten Sprachgebrauch eingegangen sind.

"Alternativ-Medien" gegen den ÖRR und mehr oder minder auf AfD-freundlichem Kurs
"Alternativ-Medien" gegen den ÖRR und mehr oder minder auf AfD-freundlichem Kurs

Es wurde ferner skizziert, dass bestimmte Wählerschichten und Berufsgruppen angesprochen werden sollten: Zum einen die „kleinen Leute“, also Handwerker, Selbständige, Arbeiter und Angestellte, aber auch Menschen aus dem konservativ-liberalen Bürgertum. Ebenso sollten junge Anhänger angesprochen werden – auch wenn man damals noch glaubte, sich diesen eher auf rhetorischen Samtpfoten annähern zu müssen. Zudem müsse man Nichtwähler an die Partei binden. Betont wurde damals auch, wie wichtig es für die AfD sei, Menschen mit Migrationshintergrund als Mitglieder, Funktionäre und Wähler zu gewinnen.

Vorwurf konterkarieren, die AfD sei ausländerfeindlich

Dahinter stand der Gedanke, dass die AfD schon damals als fremden- und ausländerfeindliche, rassistische Partei wahrgenommen wurde. Migranten, so das Strategiepapier, seien wichtig, um das genaue Gegenteil darstellen zu können. „Die gezielte Ansprache solcher ethnischen Gruppen ist schon alleine deshalb wichtig, um den Vorwurf zu konterkarieren, die AfD sei ‚ausländerfeindlich‘.“
 

Schild auf einer Anti-AfD-Demo in Nürnberg nach den Correctiv-Recherchen
Schild auf einer Anti-AfD-Demo in Nürnberg nach den Correctiv-Recherchen

Hervorgehoben wurde jedoch auch 2019, dass Zuwanderung nach wie vor eines der wichtigsten Themen für die AfD sei – und wie man dieses Thema immer wieder mit anderen Themen verknüpfen könne, in denen man wenig kompetent erscheine. So wurde beispielsweise angeregt, in Debatten über Frauenpolitik und Frauenrechte diese immer wieder mit dem Thema Islam zu verknüpfen.

Spaltung der Migranten

Aber auch in Sachen Migranten wurde schon damals plakativ unterschieden zwischen Gut und Böse. Gut für die AfD seien schon länger hier lebende Migranten, die sich überwiegend gut integriert hätten und konservative Inhalte vertreten würden, hieß es dazu 2019. Schlecht für das Land seien hingegen Asysuchende, kriminelle Migranten und solche, die sich nicht integriert haben und Sozialleistungen beziehen.

Der Hintergedanke dabei war auch: Kritisieren die alteingesessenen Migranten „Neuankömmlinge“, beuge das dem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus vor. Schaut man dabei auf die aktuellen Strukturen und Wahlerfolge wird deutlich, dass die AfD zumindest in Sachen Mitgliederanwerbung und Wählergewinnung ihren Sechsjahresplan ansatzweise umgesetzt hat.

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