Anastasia
Russische Einflussnahme
Der Anastasia-Kult in Europa ist als Teil eines Reichsbürger-nahen, esoterisch-völkischen Netzwerkes zu betrachten, in dem prorussische Drahtzieher unauffällig die Fäden ziehen. Teil 2 der Serie zur Anastasia-Bewegung.
Anastasia, Heilsbringerin aus Russland, fehlt selten, wenn rechte Esos tagen. Vordergründig geht es um spirituelle Visionen, Weissagungen und Anweisungen für ein Leben in einer paradiesischen, friedlichen Welt. Die internationale Fangemeinde orientiert sich an der Anastasia-Buchreihe von Vladimir Megre, auf deutsch erschienen im Schweizer Govinda-Verlag. Doch hinter dem russischen Kult um die Naturfrau Anastasia verbergen sich nicht nur umtriebige russische Geschäftsleute, sondern vor allem vielfältige politische Interessen. Die Anastasia-Landsitzbewegung möchte keineswegs nur eine Sensibilisierung der Gesellschaft für Natur und Verantwortung, sie erweckt einen deutsch-russischen Arierkult mit zum Leben.
Über Verbindungsleute in das Reichsbürger- und Querdenken-Miliau ist sie Teil einer sanft anmutenden, autoritären Umwälzungsbewegung. Unter dem Deckmantel von Friedensliebe, Esoterik, Heil- und Ahnenkunde werden völkische und antiliberale Ideale vermittelt. Der Anastasia-Kult ist auch in der Bundesrepublik nicht als losgelöstes, isoliertes Phänomen zu betrachten, sondern als Teil einer außerparlamentarischen Protestkultur von rechts. Antisemitismus, sozialdarwinistische Naturbezogenheit, reaktionäre Geschlechterbilder, ethnische Überlegenheitsgefühle, Widerspruchsresistenz sowie der massive Aufbau von Feindbildern sollten aufhorchen lassen.
In einer entfremdenden Industriegesellschaft bietet die Aufforderung der fiktiven Prinzessin der Taiga zum Aufbau autonomer Siedlungszellen vielen eine akzeptable Lösung. Zigtausende am vermeintlichen Ausstieg Interessierte werden so über deren Netzwerke in eine europäische „Erwachens“-Bewegung eingespeist. Dynamisch am Leben erhalten wird die Entwicklung durch Hunderte von deutschsprachigen Telegram-Kanälen, Online- und Präsenztagungen sowie Informationsportalen. Aus einem per se nicht als rechts wahrgenommenen Spektrum führen Spuren direkt ins völkisch-nationalistische und reichsideologische Lager. Obgleich hierarchische Strukturen nicht erkennbar sind gibt es immer wiederkehrende Akteure und DrahtzieherInnen, die zudem eine prorussische Einflussnahme im Sinn haben und dabei mit Nationalisten paktieren.
Das Manifest zum sanften Umsturz
„Die Vision des Guten“ soll Ende Mai 2023 im renommierten Volkshaus Zürich stattfinden. Der Titel der zweitägigen Veranstaltung geht auf den Schweizer Esoterik-Star Christina von Dreien zurück und auf die gleichnamige Buchreihe „Christina“. Seit 2019 dienen „Vision des Guten“-Seminare als internationale Vernetzungsplattform. Dabei geht es nicht darum, Massen um sich zu scharen, sondern Auserwählte zu schulen, darunter gerne Zahlungskräftige. Ein „Gönnerticket“ in der ersten Reihe kostet in Zürich 777 Schweizer Franken (rund 792 Euro). Eines der medialen Zugpferde der geplanten Veranstaltung im Theatersaal ist der prominente Schweizer Daniele Ganser. Der früher investigativ tätige Historiker gilt heute als geschäftstüchtiger Publizist mit einem Faible für Verschwörungsmythen. Anders als es den Anschein erwecken mag, ist das Seminar im Zürcher Volkshaus hochpolitisch, es geht um nicht weniger als darum, eine völlig veränderte politische Ordnung schaffen zu wollen, das sogenannte Manifest der neuen Erde.
„Manifest der neuen Erde“, dahinter verbirgt sich der Titel eines Buches von Catharina Roland und Coco Tache (Tâche-Berther), zwei Autorinnen, die ebenfalls am Seminar in Zürich teilnehmen und sich längst mit Ganser und von Dreien vernetzt haben. Die Buchhandelskette Thalia wirbt für das „Manifest der neuen Erde“ mit dem Satz, das Buch zeichne ein „wunderschönes Bild einer Erde, auf der alles Leben gesund und in Harmonie miteinander ist“. Doch laut dem sektenkritischen Internetportal „relinfo.ch“ präsentieren Roland und Tache unter der Bezeichnung „Das Manifest der Neuen Erde“ („The New Earth Manifesto“) seit 2020 „ein alternatives Gesellschafts- und Staatskonzept, das nach dem erwarteten Zusammenbruch der gegenwärtigen sozialen und politischen Ordnung Basis für eine ökologischere und spirituellere Form des menschlichen Zusammenlebens darstellen soll.“
So heißt es: „Die neuen Gesetze und Gebote basieren auf einer neuen Verfassung und werden von einem speziellen Rat der Weisen geschrieben und dem souveränen Volk zur Abstimmung vorgelegt.“ Damit wird kolportiert, die BürgerInnen der Bundesrepublik Deutschland seien nicht souverän. Die Unterstellung, es fehle dem bestehenden Staat an Souveränität ist eine der zentralen Behauptungen innerhalb der Reichsbürger-Szene. Auch „relinfo.ch“ weist darauf hin, dass die Autorinnen im Kapitel Rechtsordnung des „Manifests der Neuen Erde“ eine Idee der in der Schweiz und Österreich Staatsverweigerer genannten Szene aufgreifen.
Verschwörungsideologen im Weisenrat
Parteien sollen in dem neuen Staat verboten sein. „Universelle Lehren“ werden laut Manifest zum Dogma erhoben. Politische Kandidaten sollen von einer unbenannten Instanz vorsortiert werden. Vieles bleibt schwammig. Prägend scheinen Geschlechterstereotype sowie die Rolle sogenannter „Rechtshüter – früher Polizisten“, die in der „Übergangsphase den Neuaufbau aller Lebensbereiche“ gewährleisten sollen. Rund 23.670 angemeldete Teilnehmende hat die Website des „Manifests der Neuen Erde“. Das Ziel der Tagung: Die derzeitigen Regierungen werden zum Rücktritt aufgefordert. Ein „Weisenrat“ soll die neue Welt richten. Dieser ist sehr irdisch, dazu zählen u.a. Daniele Ganser, der österreichische Lichtnahrungs-Arzt Rüdiger Dahlke und auch der deutsche Verschwörungsideologe Traugott Ickeroth aus Saarbrücken. Ickeroth berichtet von einer Hausdurchsuchung bei ihm im Dezember 2022, es soll laut eigener Aussage nicht die erste Razzia gewesen sein. Mit Christina von Dreien und Ricardo Leppe gehören dem „Weisenrat“ zwei populäre AnhängerInnen des russischen „Anastasia“-Kultes an. Auch die beiden Autorinnen Roland und Tache stehen der russisch-nationalistischen „Anastasia“-Szene nahe. Ricardo Leppe aus Österreich, der als Pädagoge, Magier und Bildungsaktivist auftritt, bewirbt gemeinsam mit seinem Bruder Elias auf zahlreichen Kanälen nicht nur die zehnbändige Buchreihe des russischen Unternehmens Vladimir Megre, sondern orientiert sich auch mit dem Verein „WissenSchafftFreiheit“ an deren Schulmodell russischer Prägung. Der Telegramkanal „WissenSchafftFreiheit“ der Leppes hat über 41.000 Abonnenten und wirbt für die Liveveranstaltung in Zürich.
In einer Zeit esoterischer Heilsbringerinnen ist die junge Christina von Dreien ein Alternativ-Star in der Schweiz. Laut Neue Zürcher Zeitung (NZZ) macht die Toggenburgerin mit Verschwörungserzählungen Politik, bis zu 200.000 Menschen schauen ihr via YouTube zu, wenn sie auf dem Sofa sitzt und esoterische Theorien zum Besten gibt. Christina Meier nenne sich von Dreien nach dem Weiler Dreien in Toggenburg, wo sie aufgewachsen sei. Die Mutter, eine ehemalige Spitzensportlerin, protegiere sie und bezeichne die früh verstorbene Zwillingsschwester von Christina als Lichtwesen, welches sie begleite. Bernadette Meier schuf laut NZZ das Narrativ vom spirituellen Wunderkind und verwaltete lange das Geschäftliche. Von Dreiens Schulprojekt „Christinas Raum“ zeige offensichtliche Parallelen zu den Schulen der russischen „Anastasia“-Bewegung, warnt das Präventionsportal „relinfo.ch“. Ebenso wie Vladimir Megre veröffentlicht auch von Dreien im Govinda-Verlag.
Radikale Umgestaltung von Gesellschaft und Politik
Ein illustrer Kreis, der sich in Zürich für eine massive Umgestaltung der Gesellschaft einsetzt. Zu den „Pionieren“, die dort gemeinsam „für eine bessere Welt“ auftreten wollen, gehören auch Mönch und Managertrainer Pater Anselm Grün, der sich gerne auf „Querdenken“-Veranstaltungen tummelt, sowie Wolf-Dieter Storl aus dem Allgäu. Storl, Ethnologe, wird von seinem Verlag als „Kultautor für Selbstversorgung“ beworben. Eine auch finanziell umtriebige Führer-Blase. Seit einem Jahr gehört zu Daniele Gansers Geschäftsmodell eine Bezahl-Community. Der Eintritt zu seiner Online-Plattform kostet jährlich 365 Franken oder Euro. Wer sich einkauft, wird als „Peacemaker“ in dessen „Friedensbewegung“ begrüßt.
Bei Youtube hat Daniele Ganser 320.000 Abonnenten. Für ihn und viele seiner AnhängerInnen trägt nicht Russland, sondern die NATO die Hauptschuld am Ukraine-Krieg. Um seine Thesen aufzustellen, informiere sich der Publizist eigenen Angaben zufolge seit Langem auf den Social-Media-Kanälen von Ken Jebsen oder der „Rubikon“-Plattform. Für 2023 geplante Auftritte einer Vortragsreihe Gansers zum Ukrainekrieg sollten nach öffentlicher Kritik in gleich mehreren Städten abgesagt werden, Gerichte mussten bemüht werden. Der Kuppelsaal des Hannover Congress Centrum (HCC) war Anfang März prall gefüllt, als Daniele Ganser zur Frage: „Warum ist der Ukraine-Krieg ausgebrochen?“ sprach. Die Show war ausverkauft, 3.570 Menschen finden dort Platz.
Die fünfte Kolonne Russlands ?
Weite Teile des rechts-esoterischen Spektrums machen ihrem Unmut über die Sanktionen gegen Russland, Waffenlieferungen an die Ukraine oder Bidens Europapolitik Luft. Die russische Regierung unter Wladimir Putin dagegen wird in Unterhaltungen und Veranstaltungen als „macht- und ehrenvoll“ dargestellt. Eine prorussische Haltung sickert auch beim „Manifest der neuen Erde“ durch. Gansers deutscher Kollege im „Weisenrat“ Traugott Ickeroth retweetet Sätze wie „Der Krieg begann 2014, als die USA in der Ukraine illegal geputscht haben.“
Als Putin-Verehrer gilt ebenso der Gründer des Anastasia-Kultes, Unternehmer Vladimir Pusakow, der sich Megre nennt und 1950 geboren wurde. „In den Büchern werden antidemokratische Ressentiments verbreitet, Wladimir Putin als starker Herrscher verehrt und die westlichen Gesellschaften als verkommen und krank skizziert“, warnt die Emil Julius Gumbel Forschungsstelle in Potsdam in der Handreichung „Demokratiefeindliche Fabelwelten“. Nach dem Erscheinen des ersten Bandes 1996 der „Klingenden Zedern Russlands“-Reihe gründeten sich in Russland, Weißrussland und der Ukraine zunächst Lesekreise. Megre begann über die nachfolgenden Bände einen interaktiven Austausch mit seinen Lesekreisen und band sie damit enger an sich. Anscheinend um allzu regen Diskussionen und Sichtweisen vorzubeugen, entwickelten sich die Inhalte der Bücher autoritärer. Megre versuchte, die alleinige Deutungshoheit zu verteidigen, „zuverlässige Interpretationen“ stammten jetzt von ihm selbst.
Die einfache Begeisterung für das blonde Wunderwesen aus der Taiga reichte nicht mehr, es entstanden straffere Mitgliederkonstrukte, diese Gruppen und Vereine begannen sich untereinander zu vernetzten. Megre baute bereits bestehende Legenden um das vermeintlich arische Volk der Wedrussen aus und traf damit einen Nerv. Der Minsker Autor und Religionswissenschaftler Vladimir Martinovich berichtet von einem Treffen 2001 zwischen Megre und russischen AktivistInnen seiner Bewegung. Im fünften Band der Anastasia-Reihe richtete sich der Autor mit einem offenen Brief direkt an Wladimir Putin. Megres Anliegen war es, den Machthaber über das Wachsen seines Kultes und die Absicht, womöglich eine eigene Partei zu gründen, zu informieren.
„Antiwestliche Gefühle“
Weder kam es dazu, noch wird es im Interesse Putins gewesen sein. „Am Anfang war das Ziel, Russland in das fortschrittlichste Land der Welt zu verwandeln. Aber schon im sechsten Band, als die Bewegung sich auch in andere Länder der Welt verbreitete, setzte Anastasia sich zum Ziel, auch den Weltuntergang und einen weltweiten Krieg zwischen Christen und Muslimen zu verhindern. Danach wird dann zum Ziel, den Frieden in ganzem Universum zu schaffen“, beschreibt Vladimir Martinovich die Entwicklung der Buchreihe. Im siebten Band wurde sie dann gar als „Erlöserin der Welt“ dargestellt. 2004 kündigte der „Vladimirskij Fond Anastasia“ den Plan zur Gründung der „allrussischen gesellschaftlichen Bewegung für die Unterstützung des Baus der Familienlandsitze „Die klingenden Zedern Russlands“ an, so Martinovich. Vladimir Megre bezeichnete diese Initiative als „Volksmacht“.
Im Juli 2006 startete der umtriebige Unternehmer einen Aufruf mit der Aufforderung, nun die Regierungspartei Russlands „Einheitliches Russland“ zu unterstützen. Die Mitglieder der Bewegung sollten Filialen der Putinschen Partei in ihren jeweiligen Städten besuchen, ihre Solidarität äußern und an örtlichen Projekten der Partei teilnehmen. Vladimir Megre sagte, dass gerade diese Partei den Geboten Anastasias genau folge, so beschreibt es Publizist Martinovich in einem Artikel für „religio.de“. Martinovich zufolge gab es 2011 bereits ungefähr 7.000 Familienlandsitze im russischen Raum. Eine Zahl, die sich schwerlich prüfen lässt. „Diese Bewegung stützt sich zweifellos auf antiwestliche Gefühle, die ebenso wie konservative Familienwerte, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in Russland viel stärker zum Mainstream gehören als in Deutschland“, sagte Julia Andrejewa, Petersburger Anthropologin, im März 2022 gegenüber der „Moskauer Deutsche Zeitung“. Der Anastasia-Kult wird vom Bayerischen Rundfunk als die größte neu-religiöse Bewegung Russlands bezeichnet.
Die „Geburt des neuen Russland“ feiert Felix Kraus, einer der ersten deutschen Anastasia-Fans in seiner Publikation mit dem Titel: „Die Geburt des neuen Zeitalters“. Das Pamphlet ist lange vor dem Ukraine-Krieg erschienen. Kraus, der sich innerhalb der Szene gerne „Felix der Glückliche“ nennt, lebt im Ostharz. Er bezeichnet Russland als die kommende Weltmacht. Die „tiefsitzende Erfahrung des dritten Reiches“ verhindere das Bild eines „starken und gerechten Herrschers“, so Kraus, doch „früher oder später wird auch in Deutschland der Ruf nach einem ehrenhaften Mann laut werden, der über dem Geld steht, das Volk gegen die Interessen der Hochfinanz schützt.“ Im Falle Wladimir Putins blühe Russland auf. „Putin verhalf dem russischen Volk wieder zu einer echten Hymne, dem Ausdruck der Seele eines Volkes“. Es ist wenig überraschend, wenn sich die deutsche rechts-esoterische Community längst im Russland-Fieber befindet. Dafür mitverantwortlich könnten deutsch-russische Drahtzieher sein, die in Europa und der Bundesrepublik mit für den Aufbau von Familienlandsitzen, politischen Schulungen als auch kommerziellen Interessensvertretungen sorgten.
Die deutsche Wedrussen-Connection
Vladimir Jan aus Kaiserlautern handelt seit Jahren mit Zedernprodukten und hat einen direkten Draht zum Meister in Russland. Während der Corona-Pandemie interviewte er Vladimir Megre und veröffentlichte das Gespräch Anfang 2021. Megre antwortete in wirrer, bildhafter Sprache. Anastasia – und damit auch er – würden von der „Zukunft Russlands und der Zukunft der Welt“ träumen. Vladimir Jan hakte nach: „Wie stehen Sie unserem Präsidenten gegenüber?“ Das sei sehr wichtig zu wissen, denn Putins Regierung habe während Corona sehr unpopuläre Entscheidungen getroffen, so Jan. Megre soll geantwortet haben: „Der Präsident des Landes, sozusagen der Manager, hat nichts Schlechtes für das Land im Sinn. Er will, dass das Land reich ist, er will, dass die Menschen zufrieden sind. Es gibt Kräfte, die dem Land Schlechtes wollen, es erobern wollen, es ausbeuten wollen.“ Vladimir Megre gab Jan zufolge an, etwas laufe jedoch „nicht ganz richtig“. Er schlug vor, man müsse mit Putin „in Dialog treten und erklären, dass in Russland eine nationale Idee geboren worden ist, eine Idee, die nicht nur aus Worten besteht – sie ist geboren worden und zeigt sich in der Praxis! Und sie wächst bereits.“
Tatsächlich gehört der Deutsch-Russe Vladimir Jan zu einem Kreis von Intimen, die für die Verbreitung des Anastasia-Kultes im deutschsprachigen Raum sorgten. Es lief zunächst schleppend an. Dann am 6. Januar 2001 war es endlich so weit, in Neustadt an der Weinstraße fand das langersehnte Zusammentreffen mit Vladimir Megre statt. 1999 war die erste deutschsprachige Ausgabe der Anastasia-Bücher zunächst im Klein-Verlag „Wega“ in Frankeneck nahe dem pfälzischen Neustadt erschienen. Der Verlag soll von Mitgliedern eines vegetarischen Zirkels aus St. Petersburg gegründet worden sein.
Anastasia-Themen mit hoher Reichweite
Der 2018 verstorbene Komponist und Verlagsleiter Alexander Sojnikow hatte in Russland die Erlaubnis für eine deutschsprachige Übersetzung eingeholt. Mehr als 400 Anastasia-Freunde aus allen Ecken Deutschlands reisten nach Rheinland-Pfalz, heißt es in einem internen Bericht. Die meisten hätten einen „deutsch-russischen Hintergrund“, überall sei der „Geist Anastasias“ zu spüren gewesen. Megre las aus dem Buch „Die Schöpfung“ vor und sprach über ökologische Siedlungen und Kindererziehung. Am 7. Dezember 2002 erfolgte das nächste Lesetreffen, dieses Mal in Berlin im Märkischen Viertel mit rund 650 Interessierten. Megre rückte Familienlandsitze und die Anastasia-nahe Schetinin-Schule in Tekos in den Mittelpunkt. Eigentlich sollte der Leseevent im Oktober 2002 in dem für 2.000 Besucher ausgerichteten Tempodrom in Berlin stattfinden und den Durchbruch bringen. Doch das Vorhaben scheiterte.
Alexander Schirmer aus Berlin gehörte zu den Organisatoren des Berliner Treffens, fungierte als Kontaktmann zu Megre und war Moderator des russischen Forums anastasia.ru (2002: 3.000 registrierte Nutzer, 22.000 Posts in zehn Monaten). Andreas Bunkahle, der für Felix Kraus das Vorwort in seinem Pamphlet schrieb, berichtet von den Ereignissen in Berlin. Der Leipziger Esoteriker Bunkahle zitiert auch Schirmer, der 2002 angab, es seien 5,7 Millionen der Megre-Bücher auf Russisch und etwa 400.000 in anderen Sprachen verkauft worden. Bis dahin hieß es, der Wega-Verlag habe rund 30.000 bis 40.000 Bände auf Deutsch in den Umlauf gebracht. Seit 2003 begann der Schweizer Govinda-Verlag, die Bücher zu verlegen. Eigenen Angaben zufolge wurde Band 1 bis 2021 rund 103.000 Mal verkauft. Videos rund um Anastasia erreichten laut Felix Kraus über zwei Millionen Klicks.
„Für die Esoteriker ist Russland eine Metapher für Weisheit und erdverbundene Spiritualität. Maßgeblich dazu beigetragen haben die `Anastasia´-Bücher des russischen Autors Wladimir Megre“, schreibt Christian Kreil im März 2022 in einem Gastbeitrag von Der Standard. Putins autoritäre Herrschaft strahlt auch auf Völkische, Reichsideologen oder Russlanddeutsche aus. Kreil erklärt es sich so: „Für die Rechten ist Russland die vermeintlich letzte Bastion eines `weißen Europas´. Paris, London und Berlin, diese Metropolen sind – glaubt man dem rechten Narrativ – längst verloren an `Globohomo´ und Multikulti. Russland und das dort von allerlei nationalistischen Agitatoren, allen voran Alexander Dugin, propagierte `Eurasien´, ist für die neuen und alten Rechten attraktiv. Putin ist das Role-Model des auch für den hiesigen Schmalspurfaschisten attraktiven `starken Mannes´, der sich nicht zu sehr um Demokratie und Minderheitenrechte kümmern muss.“
Eichelkaffee und Zedernparfüm „Megre“ im Angebot
Alexander Schirmer, Alexander Sojnikow, Vladimir Jan – und weitere gehörten zum Kreis Russlanddeutscher, die den Kult nach Deutschland brachten. Mit dabei waren auch Nina Megre, die Enkelin sowie die im bayerischen Auerbach lebende Dolmetscherin Jana Iger. Während die Familie Megre einen schwunghaften internationalen Handel mit Zedernholzprodukten betreibt, vertritt Iger deren Firma hierzulande. 150 Gramm Eichelkaffee der Megres kosten 28,90 Euro, das Zedernparfüm „Megre“ ist für 90 Euro erhältlich. Iger wird verehrt, weil sie für Vladimir Megre nicht nur bei seinem Auftritt bei der Buchmesse in Frankfurt 2018 übersetzen durfte, sondern ihn auch näher kennen will. Die Autorin mehrerer Bücher wirbt ebenfalls für Naturprodukte aus Russland, hält Vorträge und bietet „wedrusssiche Fastenkurse“ an. Sie gehört zu denen, die die Spannung der Fangemeinde mit einem neuen elften Anastasia-Buch schüren.
Vladimir Jan agiert unauffälliger. Der Mann aus Kaiserslautern, der Bilder seines Familienlandsitzes mit See postet, ist bei Facebook befreundet mit Oleg Pankov. Pankov ist ein selbsternannter „wedrussischer Heiler und Weisheitslehrer“ aus Sibirien, der das Wissen der „russo-arischen Familienstammeskultur“, die Wiederbelebung der slawisch-arischen Volksbräuche vermittelt. Pankovs Schriften zieren Hakenkreuze, angeblich als alte heidnische Symbole. Bereits 2012 bot Pankow gemeinsam mit dem als „Urahnenerbe“ bekannten Rassisten Frank Willy Ludwig Kurse an. Ludwig unterhält in Liepe in der Nähe von Eberswalde einen Familienlandsitz. Ludwig referiert über die Reinhaltung der „Rasse“ der „slawisch-arischen Weden“. 2016 beteiligte sich Ludwig an einer rechtsextremen Tagung von Meinolf Schönborn im hessischen Knüll. Mehrfach war er zu deutschen Anastasia-Festspielen eingeladen.
Immer wieder gemeinsam mit Oleg Pankov tritt auch der selbsternannte „russisch germanische Forscher“, Unternehmer und „Experte in Sachen Menschheitsführung“ Walter Seewald alias Wjatscheslaw Seewald auf. Seewald, 1985 in Sibirien geboren, kam 1997 nach Deutschland und lebt im Allgäu. Er betreibt einen Internethandel für Esoterikwaren, dazu gehören auch Anastasia-Produkte. Auf einer Seewald zuzurechnenden Seite heißt es Anfang 2019: „Viele Slawen und Arier auf der ganzen Welt wünschen sich in Harmonie mit sich und der Natur zu leben. Dank den Bücher über die Anastasia ist der Traum für viele Menschen Weltweit schon in Erfüllung gegangen.“
Das antifaschistische Portal „Allgäu rechtsaußen“ berichtete über den alternativen Medienallrounder Seewald und dessen Bemühungen, ein „slawisch-arisches“ Bündnis gegen eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung zur Vernichtung der „weißen Rasse“ aufzubauen. Es heißt, im Kern gehe es in Seewalds „Lektionen“ immer um das Gleiche: Die „weiße Rasse“ solle versklavt werden und müsse sich wehren. Der Weg dazu sei ein slawisch-arisches Bündnis von Deutschland und Russland. Seewald nennt es „Gerussia“.
AfD-Sympathien
Das Projekt wurde Anfang 2022 im „Kaiserhof“ in Kaliningrad ausgerufen. Seewald betreibt einen eigenen Telegram-Kanal und ist nach Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters auch einer der Macher des eng verbandelten „Putin Fanclubs“ mit 43.000 Abonnenten. Laut „Allgäu rechtsaußen“ orientiert sich Seewald politisch eng an der AfD. Der deutsch-russische Akteur sei zudem bei einem Strategietreffen von Querdenken in Kempten dabei gewesen und postet im Netz Reichsideologien. Eine Fahrt zur Querdenken-Demonstration 2020 nach Berlin nutzte er, um dazu aufzurufen, vor der Russischen Botschaft zur Revolution aufzurufen. Das misslang.
Auf Telegram, wo ihm knapp 9.500 Personen folgen, zeigt er sich als Fan von Anastasia und Alice Weidel. Er schreibt: „Gleichgesinnte, erkennt endlich, all das was die Alice Weidel anspricht hätte verhindert werden können, wenn keine Verräter, sondern mehr Patrioten an der Macht währen.“ Für den 19. März rief Seewald auf Telegram zu einer „deutschlandweiten Gebietsheilung“ auf. Zur „Befreiung Deutschlands“ von der „alliierten Besatzung“ könne das deutsch-russische Bündnis „Gerussia“ beitragen. Seit 2015 verbündete sich Seewald mit Reichsbürgern wie Rüdiger Hoffmann von „staatenlos.info“ oder mit der „Anti Zensur Koalition“ (AZK) von Ivo Sasek. Ein weiterer Bekannter von Seewald: Sahra Wagenknechts Ex-Ehemann Ralph Niemeyer, dubioser Geschäftsmann und selbsternannter „Kanzler“ einer fiktiven Exil-Regierung. Bei Niemeyer wurde im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Terrorgruppe von Reichsbürgern um Prinz Reuß vor wenigen Wochen eine Hausdurchsuchung durchgeführt.
Laut „Der Spiegel“ sei die Wohnung von zehn Beamten mit Maschinengewehren durchsucht worden. Er sollte als „Zeuge“ vernommen werden, war jedoch nicht zuhause. Laut Medienberichten befand sich Niemeyer zu der Zeit in Russland. Die „Frankfurter Rundschau“ berichtet, dass Wagenknechts Ex-Mann von einer Untergrund-Gruppe angesprochen worden sei, um einen Kontakt zum Kreml, bestenfalls zu Außenminister Sergej Lawrow oder Präsident Wladimir Putin herzustellen. Ein derartiges Vorhaben dürfte der politischen Linie von Anastasia-Fan Seewald nicht widersprechen, denn dessen Anliegen ist es, Putins Expansionswillen und russischen Nationalismus voranzubringen.
Teil 1 der Serie zur Anastasia-Bewegung: Arier- und Ahnenkult
Teil 3 der Serie zur Anastasia-Bewegung: Kampf gegen Bildung