„Riesenproblem“: Antisemitisch motivierte Straftaten nehmen zu

„Ein Riesenproblem“ sei der Antisemitismus, sagte SPD-Generalsekretär Hubertus Heil in einem Interview im Rahmen des WELT-Wahlchats. Tatsächlich haben die von den Behörden registrierten antisemitisch motivierten Taten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zugenommen. In einer Umfrage berichteten jüngst fast ein Drittel der Menschen mit jüdischem Glauben von verbalen Beleidigungen in den letzten zwölf Monaten.

Montag, 18. September 2017
Redaktion
Ein antisemitisch beschmiertes Wahlplakat der SPD (Foto: SPD Kiel)
Ein antisemitisch beschmiertes Wahlplakat der SPD (Foto: SPD Kiel)
Es ist die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher. Denn in der offiziellen Statistik werden nur diejenigen Taten aufgeführt, von denen die Behörden Kenntnis erlangen. Betroffene, die nach einer antisemitisch motivierten Straftat nicht den Weg zu Polizei suchen, tauchen in diesen Zahlen nicht auf. Dessen ungeachtet haben die erfassten Taten im ersten Halbjahr dieses Jahres verglichen mit den ersten sechs Monaten 2016 um vier Prozent zugenommen. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des Grünen-Bundestagsabgeordneten Volker Beck hervor, aus der die WELT zitiert. 681 Delikte trugen die Beamten demnach in ihre Statistik ein. Zwischen Januar und August 2016 waren es 17 Taten weniger gewesen (654). Die aktuelle Zahl könnte noch steigen, da erfahrungsgemäß Straftaten nachgemeldet werden, in deren Ermittlungsverlauf sich ein entsprechendes Tatmotiv herausgestellt hat. Die Gewaltdelikte legten nur moderat zu, um einen Fall auf 15 (2016: 14 Fälle). Volksverhetzungen wurden 434 Mal erfasst (2016: 425 Fälle), Propagandadelikte 94 Mal. Dies entspricht einem leichten Rückgang um zwölf Taten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (2016: 106 Fälle).

Sind die Täter Rechtsextremisten?

Den weitaus größten Teil der bekannten antisemitischen Attacken weist das Bundesministerium laut der Kleinen Anfrage Rechtsextremisten zu. Diese sollen für 93 Prozent verantwortlich sein (632 Taten). Experten zogen diese Zahlen in der WELT in Zweifel, was an den Erfassungskriterien liege. Benjamin Steinitz, Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Berlin, wies darauf hin, dass im Bericht des „Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“ des Deutschen Bundestages (pdf-Dokument) von einem „möglicherweise ein nach rechts verzerrtes Bild über die Tatmotivation und den Täterkreis“ die Rede sei. Die steigenden Zahlen stehen im Gegensatz zu den Befunden der Einstellungsforschung, die in den letzten Jahren einen Rückgang antisemitischer Ansichten in der Bevölkerung ermittelt hat. Je nach Studie liegen die aktuellen Werte zwischen fünf und sechs Prozent für das Jahr 2016. 2004 waren die Zustimmungen noch doppelt so hoch. Die Juden selbst nehmen hingegen einen wachsenden Antisemitismus wahr. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der University of Applied Sciences Frankfurt am Main (UAS) und des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt-und Gewaltforschung (IKG) ermittelte in einer Online-Befragung, 62 Prozent der Jüdinnen und Juden hätten im letzten Jahr Antisemitismus in Form von versteckten Andeutungen erlebt. 29 Prozent berichteten dort von verbalen Beleidigungen beziehungsweise Belästigungen und drei Prozent von körperlichen Angriffen.

„Klare Kante gegen Antisemitismus in all seinen Formen“

Der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil nannte den Antisemitismus „ein Riesenproblem“. Im Rahmen des WELT-Wahlchats konnten Interessierte verschiedene Fragen an den Politiker richten. Volker Beck (Die Grünen) forderte nicht nur „klare Kante gegen Antisemitismus in all seinen Formen“, sondern ebenfalls „einem eigens dafür eingerichteten Beauftragten“.
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