Rechte Gewalt: Gravierende Zunahme bundesweit

Opferberatungsstellen haben im vergangenen Jahr bundesweit einen Anstieg rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe registriert. Trotz unterschiedlicher Zählweisen bestätigte die Vorstellung der offiziellen Statistik zur politisch motivierten Kriminalität durch Bundesinnenministerin Nancy Faeser den besorgniserregenden Trend.

Dienstag, 21. Mai 2024
Michael Klarmann
Die Anzahl der direkt Betroffenen von rechter Gewalt, Grafik: VBRG
Die Anzahl der direkt Betroffenen von rechter Gewalt, Grafik: VBRG

Am Vormittag stellte der Verband der Beratungsstellen (VBRG) in der Bundespressekonferenz in Berlin seine Jahresbilanz vor. Insgesamt 2.589 rechte Gewalttaten registrierten die Opferberatungsstellen demnach im Jahr 2023. Das sei ein Anstieg von mehr als 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, teilte der VBRG mit (2022: 2.093 rechte Angriffe). Dabei dominierten Körperverletzungsdelikte, die mehr als die Hälfte der registrierten Angriffe ausmachten (2023: 1.402; 2022: 1.247). Als Hauptmotiv geben die Beratungsstellen erneut Rassismus an. Im Jahr 2023 gab es demnach ein Drittel mehr rassistisch motivierte Angriffe als im Jahr 2022.

So wurde am 27. Mai 2023 eine schwangere Frau in Hamburg-Niendorf von einem Nachbarn angegriffen, die Tat wird vom VBRG als „rassistisch motivierter Mordversuch“ bewertet. Der 49-Jährige habe in Tötungsabsicht mit einem Repetiergewehr durch die Wohnungstür der aus Pakistan stammenden Familie geschossen. Das Landgericht Hamburg verurteilte den Rechtsextremisten später wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Haft und stellte als Tatmotiv antimuslimischen Rassismus fest. Das Opfer war zuvor über einen längeren Zeitraum von dem Nachbarn rassistisch bedroht worden.

Flüchtlingsfeindliche Diskurse der AfD

Eine Ursache für die Zunahme rassistischer Übergriffe sieht VBRG-Vorstandsmitglied Judith Porath in „weitverbreiteten flüchtlingsfeindlichen Diskursen und rassistischer Hetze, die von extrem rechten Parteien wie der AfD geschürt werden.“ Jeden Tag, so die VBRG-Jahresbilanz, werden in mehr als der Hälfte der Bundesländer durchschnittlich sieben entsprechende Angriffe verübt. Dabei werden Menschen zur Zielscheibe von Attacken, weil sie im Weltbild der Täter als minderwertig gelten und ihnen die Menschenwürde abgesprochen wird.

Die Daten basieren auf der Auswertung der Zahlen der Opferberatungsstellen in elf Bundesländern. Erfasst sind Zahlen aus den fünf ostdeutschen Bundesländern sowie aus Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Bezogen auf die Einwohnerzahl wurden demnach in Berlin (8,2 Delikte pro 100.000 Einwohner), Sachsen-Anhalt (6,6), Brandenburg und Hamburg (je 5,2) die meisten rechten Gewalttaten verübt, in Bayern (0,8) und Baden-Württemberg (0,5) die wenigsten.

Anschwellender Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus

Um ein Drittel zugenommen haben laut VBRG auch die Fälle antisemitisch motivierter Übergriffe. Hier sei seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen, so Porath. Zugleich scheint dies auf schon vorhandenen antisemitischen Ideologien in Deutschland aufzubauen. „In den Gedenkstätten erleben wir, wie sich jahrelange rechtsextreme Hetze und der Geschichtsrevisionismus der AfD auswirken. Wir erhalten Hassmails mit offenen Antisemitismus und Shoah-Verharmlosung“, sagte Jens-Christian Wagner, Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Die Mitarbeiter erlebten immer wieder Drohungen, Beschimpfungen und Störungen auch bei Führungen.

Die Grafik veranschaulicht die Diskrepanz zwischen den Zahlen des VBRG und dem Bundesinnenministerium, Grafik: VBRG
Die Grafik veranschaulicht die Diskrepanz zwischen den Zahlen des VBRG und dem Bundesinnenministerium, Grafik: VBRG

Mit Blick auf die diesjährigen Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern befürchtete Vorstandsmitglied Judith Porath einen weiteren Anstieg rechter Gewalttaten. Zuletzt hatten immer wieder schwere Übergriffe auf Politiker, Parteibüros, Veranstaltungen und Wahlkampfhelfer für Schlagzeilen gesorgt. Besonders gefährdet waren und sind laut VBRG Politiker mit Migrationshintergrund oder dunkler Hautfarbe. So wurde im Mai 2023 in Halle (Saale) ein Brandanschlag auf das Wahlkreisbüro des SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby verübt, der zuvor mehrfach rassistische Drohungen erhalten hatte.

Normalisierung des Rechtsextremismus

„Der Anstieg rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im Jahr 2023 hat zu einer dramatischen Ausweitung der Gefahrenzonen für viele Menschen geführt“, mahnte Porath an. Ausgangspunkte rechter Gewalt gegen Journalisten und zivilgesellschaftlich Engagierte, die Rechte als politische Gegner ansehen, waren 2023 laut VBRG auch Kundgebungen und Veranstaltungen der AfD. Bereits jetzt gebe es vielerorts eine „Normalisierung von Antisemitismus, Rassismus und extrem rechter Ideologien“, die den Alltag Betroffener belaste und verändere, sagte Porath.

Auch der Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Wagner, erkannte im Politik- und Sprachstil der AfD einen entscheidenden Faktor für die Zunahme rechter Gewalt. In einigen Regionen habe die Partei bereits eine kulturelle Hegemonie erreicht, die Zivilgesellschaft sei dort eingeschüchtert. Ein solches gesellschaftliches Klima ermutige Rechtsextreme zu Gewalttaten.

Anstieg vs. Abstieg

In der VBRG-Jahresbilanz wird auch auf rechte Gewalt aus dem Spektrum der Verschwörungsgläubigen hingewiesen. Radikalisierte Pandemieleugner, Verschwörungsideologen, Anhänger der QAnon-Erzählungen und Reichsbürger werden dabei in den Statistiken der Sicherheitsbehörden jedoch nicht immer als extrem rechte Täter erfasst. Während am Vormittag die Vorstellung der offiziellen Statistik zur politisch motivierten Kriminalität durch Faeser noch ausstand, kritisierte der VBRG vorab schonmal erneut eine gravierende Untererfassung durch die Behörden.

Bundesinnenministerin Faeser wies am Nachmittag in der Bundespressekonferenz dann auf einen generellen Anstieg politisch motivierter Straftaten hin. Mehr als 60.000 solcher Straftaten registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) demnach im Jahr 2023. Fast die Hälfte davon geht auf das Konto von Rechtsextremisten. Die Zahl der politisch rechts motivierten Taten lag bei 28.945, was einem Anstieg von gut 23 Prozent gegenüber 2022 entspricht.

VBRG zählt 1.319 mehr rechte Gewalttaten als BKA

Rückläufig war hingegen die politisch motivierte Gewalt in ihrer Gesamtsumme. Das BKA registrierte 2023 insgesamt 3.561 Taten, davon wurden 1.270 mit einem rechten politischen Hintergrund eingeordnet. Die vom BKA festgestellten rechtsmotivierten Gewalttaten sind damit in der behördlichen Zählung im Vergleich zu 2022 um 8,55 Prozent gestiegen. Die VBRG-Jahresbilanz hat demgegenüber im vergangenen Jahr 1.319 mehr rechte Straftaten registriert als das BKA.

Der Präsident des BKA, Holger Münch, betonte, die politisch motivierte Kriminalität habe sich innerhalb von zehn Jahren generell fast verdoppelt und nehme weiter zu. „In Teilen der Bevölkerung bestehen Radikalisierungstendenzen: Diese reichen bis hin zu einer versuchten Delegitimierung des Staates und seines Gewaltmonopols. Diese Entwicklung müssen wir sehr ernst nehmen, denn sie bedroht unsere Demokratie und unseren gesellschaftlichen Frieden“, warnte Münch.

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