VBRG
Rechte Gewalt: Beratungsstellen warnen vor Anstieg und den Folgen bei minderjährigen Opfern
Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt hat seine Jahresbilanz für 2022 veröffentlicht. Rechte respektive rassistische Gewalt sei angestiegen – vor allem gegenüber Minderjährigen. Auch die von AfD-Funktionären ausgeübte Gewalt sei besorgniserregend.

Laut Jahresbilanz des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) ereigneten sich im Jahr 2022 täglich bis zu fünf rechte Angriffe alleine in den zehn Bundesländern, in denen Anlaufstellen für Betroffene diese erfassen. 2.871 Menschen seien von 2.093 politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierten Angriffen allein in Ostdeutschland, Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein direkt betroffen gewesen. Den Angaben zufolge waren unter den Betroffenen 520 Minderjährige.
Die Zahl der Minderjährigen habe sich dabei fast verdoppelt gegenüber 2021, als 288 Kinder und Jugendliche Opfer rechter Gewalt gewesen seien. Rassistisch motivierte Angriffe auf Kinder und Jugendliche „beeinflussen den Alltag der betroffenen Familien massiv“, merkte Sultana Sediqi von „Jugendliche ohne Grenzen“ aus Thüringen an. Besonders rassistische Bedrohungen, Diskriminierungen und Gewalt im Wohnumfeld und an Schulen würden zu massiven Einschränkungen und Belastungen im Alltag der betroffenen Familien führen.
Unvollständige Erfassung von Straftaten
Die vom VBRG erfassten rechten Gewalttaten und Übergriffe für das Jahr 2022 sind nicht vollständig. VBRG-Vorstandsmitglied Robert Kusche sagte, da, wo es kein ausreichendes Beratungsangebot gebe, blieben viele Vorfälle unentdeckt. Auch die Leiterin der Ombudsstelle der Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung, Doris Liebscher, ging bei der Vorstellung des Jahresberichtes davon aus, das es bei vielen Gewalttaten mit rechten, rassistischen und antisemitischen Motiven nicht zur Anzeige komme. Falls doch, blieben die Hintergründe nicht selten zunächst unerwähnt.
„Allzu oft werden insbesondere rassistische Motive von Ermittlungsbehörden und auch von Gerichten nicht als solche erkannt oder nicht berücksichtigt“, kritisierte die Juristin. Als Negativ-Beispiel nannte Liebscher den Fall von Dilan. Die Abiturientin mit türkischen Wurzeln und deutschem Pass war Anfang Februar 2022 in Berlin nach einem Streit mit Maskengegnern in einer Straßenbahn rassistisch und misogyn beschimpft worden. Aus der Gruppe von Erwachsenen aus dem rechten Hooligan-Spektrum wurde sie danach an einer Haltestelle geschlagen und getreten. Das Amtsgericht Tiergarten verurteilte später vier der sechs Angeklagten. Rassistische Beleidigungen registrierte das Gericht nicht.
Rassismus ein Hauptmotiv
„Der Anstieg rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im Jahr 2022 ist vor dem Hintergrund der pandemiebedingten Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr 2022 besonders gravierend. Rassistische Mobilisierungen gegen Geflüchtete in Ostdeutschland, Brandanschläge auf Unterkünfte sowie eine vielerorts unerträgliche Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus belasten den Alltag sehr vieler Menschen“, sagt Robert Kusche vom Vorstand des VBRG.
Rassismus war laut der VBRG-Statistik auch 2022 – wie schon in den Vorjahren – das häufigste Tatmotiv bei rechten Delikten. Mehr als die Hälfte aller Angriffe (1.088 Fälle) seien rassistisch motiviert gewesen und hätten sich überwiegend gegen Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrungen und Schwarze Deutsche gerichtet, stellt der VBRG fest. Besorgniserregend sei demnach auch, dass die Anzahl antisemitisch motivierter Angriffe im Vergleich zum Vorjahr um das Vierfache gestiegen sei (2022: 204; 2021: 54). Auf Bedrohungen folgten dabei zuweilen innerhalb sehr kurzer Zeit schwere Gewalttaten.
Blinder Flecken bei der Wahrnehmung
Die Anzahl der von den Opferberatungsstellen registrierten trans- und queerfeindlichen Angriffe hat sich im Vergleich zum Vorjahr auf 174 verdoppelt. Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auf den Tod von Malte C., der beim CSD-Münster während eines queerfeindlichen Angriffs einschritt und tödliche Verletzungen erlitt. Der Täter, Nuradi A., wurden später vom Landgericht Münster zu fünf Jahren Haft verurteilt. Zusätzlich zur Jugendstrafe ordnete das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für den suchtkranken, gebürtigen Tschetschenen an. Die psychiatrische Gutachterin, Jugendgerichtshilfe und Verteidigung hatten in dem Prozess darauf hingewiesen, dass der Heranwachsende erhebliche Probleme mit seiner eigenen Homosexualität habe.
„Allzu oft wird Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt selbst die Schuld oder eine Mitverantwortung an einem Angriff zugeschrieben“, stellte Doris Liebscher bei der Vorstellung des Jahresberichtes fest. Bei vielen Angegriffenen führten Täter-Opfer-Umkehr und „die mangelnde Rassismuskompetenz“ bei Polizei und Justiz dazu, „dass ihr Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat fundamental erschüttert wird“, betonte die Juristin. Auch hier verwies Liebscher auf den Fall der Schülerin Dilan. Eine rassistische Täter-Opfer-Umkehr der Angreifer war zunächst sogar in Polizei-Pressemitteilungen übernommen worden.
Untererfassung bei den Verschwörungsgläubigen
Auch für 2022 gehen die Beratungsstellen von einer eklatanten Untererfassung von rassistischen, antisemitischen und rechten Tatmotivationen durch Polizei und Justiz aus. „Wir sehen mit Besorgnis, dass die Untererfassung rechter Gewalt zunimmt“, sagte Robert Kusche. Dies zeige sich besonders auffällig bei der Verortung von Gewalttaten durch Verschwörungsgläubige in der PMK-Kategorie „nicht zuzuordnen“. Das hatte unter anderem auch in Nordrhein-Westfalen zu einem starken Anstieg an Straftaten geführt und blendet möglicherweise aus, dass Täter aus diesem Spektrum auch rechte Ideologiefragmenten vertreten.
„Die nach wie vor mangel- und lückenhafte Erfassung und Anerkennung von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus als Tatmotive durch Polizei und Justiz verschleiert das Ausmaß der Bedrohung und Dimensionen rechter Gewalt und lässt die Betroffenen im Stich“, resümierte Kusche. In einer gesonderten Analyse (2022/2023) hat der VBRG zudem die Gewaltbereitschaft von Mitgliedern, Lokalpolitikern und Funktionären der AfD untersucht. Die Zahl der Fälle, bei denen solche übergriffig wurden, sei „besorgniserregend“. Kusche sagte in diesem Zusammenhang: „Die Gefahr, die von solchen Tätern – Männern mittleren Alters, oft Akademiker – ausgeht, darf keinesfalls unterschätzt werden. Dass gewählte Abgeordnete als brutale Schläger auftreten, entspricht nicht der gängigen Vorstellung rechter Gewalttäter bei Ermittlungsbehörden und Justiz.“
Angreifen für Deutschland
Auf einige Taten geht die VBRG-Fallsammlung ein, etwa auf den Fall von Dubravko Mandic. Er war bis April 2022 AfD-Stadtrat in Freiburg, inzwischen ist er aus der Partei ausgetreten und hat sein Mandat niedergelegt. Im Mai 2022 wurde er vom Amtsgericht wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf Bewährung verurteilt. Der Rechtsanwalt hatte 2019 mit einem Mitstreiter zunächst zwei Personen festgehalten, denen die AfD-Politiker unterstellten, Plakate der Partei zu beschädigen. Ein Mann, der einschreiten wollte, wurde von Mandic als „Zecke“ beleidigt und mit Reizgas besprüht.