Polizei tut sich schwer mit Einstufung politischer Gewalt
Zu neun politisch motivierten Tötungsdelikten kam es 2022. Manche waren bislang unbekannt. Sie zeigen erneut, wie schwer sich die Polizei mit einer korrekten Erfassung rechter, rassistischer oder queerfeindlicher Taten tut – und damit ein klares Bild der Bedrohungslage durch rechte Gewalt verhindert.
Dem Bundeskriminalamt liegen für das Jahr 2022 neun teils bisher unbekannte politisch motivierte Tötungsdelikte vor. Glücklicherweise hatten alle Opfer mehr oder weniger Glück und kamen mit dem Leben davon. Je zwei der Taten ordnete die Polizei dem Phänomenbereich rechts und „religiöse Ideologie“ zu, eine sei links motiviert gewesen. Vier der Delikte waren für die Polizei „nicht zuzuordnen“. Das geht aus der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Frage der Linke-Abgeordneten Martina Renner hervor. Auffällig ist der hohe Anteil an Delikten, die für die Polizei zwar politisch motivierte Kriminalität (PMK), aber in ihrer Stoßrichtung „nicht zuzuordnen“ waren, obwohl etwa in einem Fall bei einem gewalttätigen Reichsbürger neben einem beachtlichen Waffenarsenal auch NS-Devotionalien gefunden wurden.
Martina Renner, auf deren Initiative der politische Tatgehalt einiger der Tötungsdelikte aus 2022 überhaupt erst öffentlich bekannt wurde, kritisiert, dass auch schwere politische Gewalttaten immer wieder von der Polizei nicht oder nicht richtig erfasst werden: „Was ist so schwer daran, einen mit Kriegswaffen ausgerüsteten Mann mit einem Hakenkreuzdolch richtig, nämlich rechts, einzuordnen? Wer solche Fälle nicht klar benennt, hat kein Interesse, effektiv gegen rechte Gewalt vorzugehen“, so die Sprecherin für antifaschistische Politik der Bundestagsfraktion der Linkspartei. Doch das Problem sei bereits strukturell in den Kategorien der PMK begründet. Ob absichtlich oder nicht verhindere der „Phänomenbereich nicht zuzuordnen“ ein klares Bild der Bedrohungslage durch rechte Gewalt.
Eritreer bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt
So kam es am 28. August 2022 im bayerisch-schwäbischen Krumbach zu einem rechtsmotivierten Mordversuch, der bis dato nicht öffentlich bekannt gewesen ist. Recherchen von „Allgäu rechtsaußen“ bestätigten am Donnerstag, dass die Staatsanwaltschaft Memmingen gegen einen 32-jährigen Deutschen ermittelt, der offenbar aus rassistischen Gründen versuchte, einen mittlerweile 33-jährigen Eritreer zu ermorden. Nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis kam es am frühen Morgen im Stadtgebiet von Krumbach nach einem zunächst verbal geführten Streit zu einer anschließenden körperlichen Auseinandersetzung, bei der der Deutsche seinem Opfer diverse Verletzungen beigebracht und ihn letztlich bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt hatte. Die Strafverfolgungsbehörde sieht „Fremdenhass“ als „eines von mehreren Motiven der Tat“. Zudem soll der Beschuldigte heimtückisch vorgegangen sein. Ein Haftbefehl wurde allerdings erst in der zweiten Dezemberhälfte 2022 vollzogen.
Ein weiterer Tötungsversuch, den die Polizei nach den Angaben des Innenministeriums als rechtsmotiviert einstufte, ereignete sich am 3. November 2022 im saarländischen Neunkirchen. Auf Anfrage von ENDSTATION RECHTS. bestätigte die zuständige Staatsanwaltschaft Saarbrücken Ermittlungen gegen einen 39-Jährigen, der unter der Androhung, sein Opfer töten zu wollen mit einem Messer in Richtung des Thorax eines 23-jährigen Syrers gestochen haben soll. Der Geschädigte soll den Angriff jedoch abgewehrt haben und dadurch lediglich an der Hand verletzt worden sein. Als dieser floh, soll der Beschuldigte ihn mit dem erhobenen Messer verfolgt und fortwährend bekräftigt haben, dass er alle Bulgaren und konkret den Geschädigten töten will. Erst als die Polizei eintraf, habe der Beschuldigte von dem Geschädigten abgelassen. Unmittelbar vor dem Angriff soll der 39-Jährige den Syrer als „scheiß Kanacke, scheiß Bulgare und Affe“ bezeichnet haben. Dieser Fall war als solcher bereits öffentlich bekannt. Allerdings enthielten die beiden von der Polizei herausgegebenen Pressemitteilungen keinen Hinweis auf das politische Motiv.
Reichsbürger-Waffenkammern und NS-Devotionalien für Polizei „nicht zuzuordnen“
„Nicht zuzuordnen“ waren für die Polizei zwei Fälle aus Baden-Württemberg, konkret am 7. Februar in Efringen-Kirchen sowie am 20. April in Boxberg, wobei es sich bei den Tätern jeweils um Reichsbürger handelt. Im Februar soll ein damals 61-Jähriger nach einem Bericht des SWR im Landkreis Lörrach frontal in einen Polizisten gefahren sein und dabei in Kauf genommen haben, diesen tödlich zu verletzen. Als der Beamte auf der Motorhaube lag, soll der Mann noch einmal beschleunigt haben. Selbst mehrere Schüsse von anderen Polizisten sollen ihn zunächst nicht gestoppt haben. Nach Angaben der Bundesanwaltschaft, die die Ermittlungen übernommen hatte, habe der Reichsbürger schließlich sein Fahrzeug so zur Seite gelenkt, dass der Polizist auf die Straße gestürzt sei und sich schwer am Kopf verletzt habe. Damit hatte sich der Reichsbürger einer Verkehrskontrolle entziehen wollen. Nach Informationen der Weiler Zeitung habe sich der inzwischen 62-Jährige im Herbst zuvor mit einer Armbrust und Pfeilen bewaffnet und 2020 offenbar mit Blick auf die Corona-Demonstrationen in einem Schreiben dargelegt, man solle bei einer Demo warten, bis die Polizei auf den Demozug losgehe. Dann würde man nachrücken und die Beamten in den Pulk reindrücken. Dabei könne man sie auch gleich entwaffnen.
Zu einem spektakulären SEK-Einsatz kam es am 20. April in Boxberg-Bobstadt. Im Zuge einer Razzia wurde aus einem Reichsbürger-Anwesen heraus offenbar mit einer Kalaschnikow das Feuer auf die Spezialeinheit eröffnet. Ein SEK-Beamter erlitt dabei Schussverletzungen in beiden Beinen. Die Schusswesten bei zwei weiteren Einsatzkräften verhinderten nach einem Bericht des SWR Schlimmeres. „Sehr überrascht“ habe die Polizei das, was sie in den beiden Wohnhäusern entdeckten: Zwei begehbare Waffenkammern, schnellautomatische Waffen, Kriegswaffen, Handfeuerwaffen, Stichwaffen sowie nationalsozialistische Devotionalien wie eine Reichskriegsflagge. „Irre viel“ Munition hätten die Ermittler gefunden, zum Beispiel in Munitionsgürteln. Auch eine Cannabis-Plantage sei entdeckt worden. Im Wohnzimmer sei man auf ein aufgestelltes Maschinengewehr gestoßen. Trotz nationalsozialistischer Devotionalien erhielt der Fall nicht die Einstufung als rechte Tat.
Auch die Polizei in Brandenburg konnte einen Tötungsversuch vom 20. August 2022 in Michendorf politisch nicht zuordnen. Auf Anfrage von ENDSTATION RECHTS. benennt die zuständige Polizeidirektion, eine „Auseinandersetzung zwischen zweier osteuropäischen Lkw-Fahrer“ auf dem Parkplatz der Autobahnraststätte Michendorf Süd. Infolge dessen soll einer der Männer den anderen körperlich so stark attackiert haben, dass dieser schwerstverletzt wurde und mit lebensbedrohlichen Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste. Per Öffentlichkeitsfahndung sucht die Polizei nach dem flüchtigen Täter, Hintergrund soll ein Konflikt über den Ukraine-Krieg gewesen sein.
„Wir schlagen dich so lange, bis du aufhörst schwul zu sein!“
In der Nacht zum 5. November 2022 kam es in der Kieler Innenstadt zu einem homofeindlichen Übergriff, wie die Staatsanwaltschaft Kiel auf Anfrage bestätigt. Eine drei- oder vierköpfige Gruppe habe eine andere Gruppe im Alter von 23 bis 27 Jahren vor einem Lokal homofeindlich beleidigt, worauf es zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen sei. Dabei habe mindestens einer der Aggressoren ein Messer eingesetzt, ein 23-Jähriger erlitt eine zunächst lebensbedrohliche Stichverletzung am Oberkörper, konnte jedoch durch notärztliche Behandlung stabilisiert werden. Bereits am übernächsten Tag beteiligten sich nach einem Bericht des NDR rund 700 Menschen an einer Mahnwache, die auf den homofeindlichen Hintergrund der Tat aufmerksam machte. Auch diese stufte die Polizei als „nicht zuzuordnen“ ein.
Ein weiterer brutaler homofeindlicher Übergriff ereignete sich im Juni 2022 in Marburg. Damals wurde ein Student mit einer Eisenstange beinahe zu Tode geprügelt, berichtet queer.de. Dabei sollen die Täter sinngemäß gerufen haben: „Wir schlagen dich so lange, bis du aufhörst schwul zu sein! Dann bist du endlich geheilt!“ Anschließend sei der Betroffene bewusstlos gewesen, dann aber noch mal kurz aufgewacht. In diesem Moment hätten die beiden Jugendlichen noch mal auf ihn eingetreten und seien dann vom Tatort geflohen. Ihr Opfer ließen sie schwerverletzt zurück. Die Polizei habe den queerfeindlichen Hintergrund verschwiegen, kritisiert queer.de. Offenbar wurde die Tat auch nicht als politisch motivierter Mordversuch eingestuft. Jedenfalls ist er in der entsprechenden Liste des Bundesinnenministeriums nicht verzeichnet. Unklar ist, für wie viele weitere Fälle politisch motivierter Gewalttaten das womöglich gilt.