Man darf sich wundern, dass man sich wundert
Enthemmte Alkoholisierte grölen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ in einem Nobelclub. Berechtigterweise ist man empört. Doch rassistische und rechtsextremistische Einstellungen gibt es nicht nur bei einschlägigen Mitgliedern und Wählern. Darauf macht die Extremismusforschung seit Jahren aufmerksam. Ein Kommentar zu dem Skandal-Video von Sylt.

„Betrunkene und Kinder sagen die Wahrheit“, so lautet ein bekanntes deutsches Sprichwort. Genau genommen handelt es sich aber um eine schiefe Formulierung, denn es wird eben nicht unbedingt die Wahrheit gesagt. Die jeweils Gemeinten äußern das, was ihnen subjektiv als Wahrheit erscheint. Anders und soziologischer formuliert: Ihre latenten Einstellungen nehmen eine manifeste Form an. Ansonsten würden die Gemeinten sich gar nicht so äußern, verstoßen sie doch so gegen gesellschaftliche Gepflogenheiten.
Entsprechend verhält es sich auch mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, beides genießt in der Öffentlichkeit einen schlechten Ruf. In Anlehnung an die Antisemitismusforschung könnte man von einer Existenz in der „Kommunikationslatenz“ sprechen, die gemeinten Einstellungen sind durchaus bei den Menschen als Ressentiment vorhanden, sie artikulieren sie aber weniger in der Öffentlichkeit und mehr im Privatleben. So mag es auch bei den Akteuren auf dem Sylt-Video sein, hätten dessen Akteure doch ansonsten derartige Einstellungen von sich gewiesen.
Gegrölte Parolen mit langer Tradition
Was war dort in dem Nobelclub „Pony“ bei einem Tanzabend geschehen? Filmaufnahmen dokumentieren Tanzende, die offenbar unter Alkoholeinfluss standen und rechtsextremistische Parolen sangen. Insbesondere die Aussage „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ kam immer wieder im Chor zur Musik gerufen vor. „Deutschland den Deutschen“ war bereits ein Slogan der Völkischen in der Weimarer Republik. Und in den 1990er Jahren riefen Neonazis insbesondere, aber nicht nur in Ostdeutschland: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“.
Man muss indessen diese Detailkenntnisse nicht haben, um dahinter eine rassistische Grundeinstellung zu vermuten. Möglicherweise hätten viele der Akteure sich ansonsten in der Öffentlichkeit nicht so geäußert, der Alkohol offenbarte aber ihre Einstellungen. Hemmungslos sangen sie die alte Neonazi-Parole, dann nur zur „L’amour toujours“-Melodie. Einer der Anwesenden entbot offenbar gar den Hitlergruß, immerhin in der Öffentlichkeit ein Straftatbestand. Empört war offenkundig niemand.
Nicht das typische Klientel von rechtsextremistischen Wählern
Die anwesenden Grölenden zählten offenbar zur wohlhabenden Schicht, denn auf Sylt ist der Urlaub teuer. Und prekär Lebende besuchen weniger einen teuren Nobelclub. Anwesend waren somit nicht Angehörige von sozialen Gruppen, die eher rechtsextremistische Parteien bei Wahlen unterstützen. Es gibt auch keine Belege dafür, dass organisierte Rechtsextremisten anwesend waren. Und womöglich hätte die AfD dort nicht so viele Stimmen bekommen. Gleichwohl artikulierten sich alltäglicher Rassismus und soziologischer Rechtsextremismus.
Die öffentliche Empörung darüber ist mehr als verständlich, „ekliges Gebaren“ passt mehr als nur terminologisch gut. Man darf aber überrascht sein, dass man überrascht ist. Denn die politikwissenschaftliche Extremismus- und Politische Kulturforschung machen schon seit Langem darauf aufmerksam, dass es über organisierte und wählende Rechtsextremisten hinaus derartige weit verbreitete Vorstellungen gibt. Darauf sollte mehr Aufmerksamkeit gerichtet werden, ein entsprechendes Wissen ist vorhanden.