Rezension
Kein sicherer Ort mehr für Juden?
Die Bundesrepublik Deutschland ist kein sicherer Ort mehr für Juden. Das ist das Fazit des Journalisten Philipp Peyman Engel zur Lage der Juden in der Bundesrepublik Deutschland nach dem 7. Oktober. Auf knapp 200 Seiten seines von Fakten geprägten und zugleich persönlichen Buches „Deutsche Lebenslügen“ berichtet Engel, wie er den wachsenden Antisemitismus unterschiedlicher Schattierungen erlebt.
Engel, Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“, dem wichtigsten Medium des deutschen Judentums, ist Sohn einer geflüchteten persischen Jüdin und eines deutschen Vaters. Vorfahren der Mutter wurden vor 500 Jahren im Zuge der Reconquista aus ihrer damaligen Heimat Spanien vertrieben. Dem Sechstagekrieg folgte die Emigration aus dem Iran in die Bundesrepublik.
Seit dem 7. Oktober „ist nichts mehr, wie es war“, schreibt der 1983 im westfälischen Herdecke geborene Engel wenige Monate nach dem Massaker an mehr als 1.200 Israelis, darunter Israelis mit
deutschem Pass oder zumindest einem klaren Deutschland-Bezug. Seit dieser von Engel als „Zeitenwende“ beschriebenen Lage ist die Bedrohung der jüdischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik so akut wie nie.
Judenhass en vogue
Als Folge des „dunkelsten Tages“ in der Geschichte des jüdischen Volkes seit der militärischen Befreiung vom Nationalsozialismus bricht nun offen aus, was längst vorhanden war: Judenhass durch Rechtsextremisten, Muslime und die postkoloniale Linke. Teile der alten, der antiimperialistischen wie der neuen postkolonialen Linken („vermeintlich links-progressive Community“) unterscheiden sich in ihrem Antisemitismus, den sie sich nicht eingestehen wollen, nicht mehr von jenen Muslimen, die Juden ganz offen hassen, weil sie Juden sind, konstatiert Engel.
Die deutsche Haltung dem Judentum gegenüber sei verlogen. Die Deutschen hätten nach Krieg und Schoah nur gelernt, „die Klappe zu halten“, stellt Engel fest. Die seit Jahrzehnten „viel zitierte Wiedergutwerdung“ entlarvt er als eine „deutsche Lebenslüge“: Einerseits werden Politik und Öffentlichkeit nicht müde, jüdisches Leben hierzulande und dem Staat Israel eine Unterstützung bis hinauf zur Staatsräson zuteil werden zu lassen, aber gleichzeitig seien Judenhass und antisemitische
Vernichtungsfantasien en vogue. Nicht nur bei Neonazi-Demonstrationen auf den Straße, sondern inmitten der Hochschulen.
„Deutschland hat die Wahl“
Engel sieht Versäumnisse bis in die höchste Politik. Er ruft in Erinnerung, dass Claudia Roth, Staatsministerin der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Antisemitismus auf der documenta „Tür und Tor öffnete“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sage an Gedenktagen „Nie wieder“, trete aber an allen anderen Tagen für Geschäfte mit dem Iran ein. Staatsräson in Teheran ist die „Befreiung“ Jerusalems vom Zionismus. Positiv wertet Engel Steinmeiers Statement nach dem 7. Oktober, dass unsere Solidarität „nicht nur dem Israel als Opfer des Terrors“ gelte, sondern auch jenem Israel, „das sich wehrt, das kämpft gegen eine existenzielle Bedrohung.“
Eindringlich warnt Engel in seinem informativen Buch vor einer Wiederkehr der 1930er Jahre. Die AfD bezeichnet der Autor klar als „Neonazipartei“. Mit ambivalenten Gefühlen beendet Engel sein Buch: “Ich möchte und werde mich nicht von einem antisemitischen Mob tyrannisieren lassen. Deutschland ist ein gutes Land, trotz allem ... Aber eine Gesellschaft, die dem Antisemitismus Spielraum lässt, taumelt in den Abgrund. Deutschland hat die Wahl.“
Philipp Peyman Engel: Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch. München 2024, dtv, 192 Seiten, 18 Euro