Inklusion
Geschichten über Ideologie und Belastung – Höcke nimmt Stellung zum Sommerinterview
So hatte sich Björn Höcke das nicht vorgestellt: Er, den ehemalige Lehrer*innen nach eigenen Aussagen als empathisch beschreiben könnten, wurde nach seinem Sommerinterview scharf angegangen aufgrund von Äußerungen über Menschen mit Behinderung. War dies der Dynamik einer medialen Empörungsspirale geschuldet oder berechtigt? In Schnellroda schüttet Höcke sein Herz aus und spricht über sein Verhältnis zu Inklusion – mit wenig sachkundigen Gastgeber*innen.
Die Stimmung ist entspannt an Kubitscheks Tisch. Björn Höcke erzählt zum Aufwärmen von seiner Urlaubslektüre. Man schätzt sich, gefällt sich in Erzählungen über Philosophie, pflegt stets einen larmoyanten Unterton, wenn es um die eigene Rolle in der Opposition in diesem Land geht. Eine halbe Stunde darf man dem Trio bei der Vervollständigung der Gedanken beim Reden zuhören, bis das Reizwort „Inklusion“ fällt.
Inklusion, so führt Ellen Kositza ein, sei ein ideologisches Projekt, in einem Atemzug genannt mit „Gendern“. Götz Kubitschek weiß zu berichten, dass es da auch um Kinder geht, die „der deutschen Sprache nicht mächtig sind“. Höcke versucht, die Begrifflichkeiten etwas zu schärfen. Einigkeit wird rasch erzielt mit der Aussage, bei Inklusion handle es sich um Gleichmacherei. Ein „gleichgemachter Klassenverband“ vermag nicht, nach Talenten zu unterscheiden und schade dem Leistungsgedanken. Doch nicht nur den leistungsstarken Kindern werde geschadet, auch den Kindern mit Behinderung, welche dem Spott ihrer Mitschüler*innen schutzlos ausgesetzt werden.
Akzeptabler Zustand?
Ist das so? Das Argument, die Kinder könnten von anderen gehänselt werden, ist aus zweierlei Gründen fragwürdig.
- Ist das ein akzeptabler Zustand? Ist es nicht die Aufgabe unserer Gesellschaft, Ausgrenzung nicht als gegeben hinzunehmen? Täglich arbeiten Schulsozialarbeiter*innen und Lehrkräfte engagiert daran, die gegenseitige Akzeptanz von Kindern zu stärken. Ihre Arbeit zu unterstützen, erscheint für unsere Gesellschaft deutlich hilfreicher als das schulterzuckende Hinnehmen von Mobbing und Abwertung.
- Ja, Kinder können an Schulen negative Erfahrungen mit anderen machen. Das betrifft Kinder mit und ohne Behinderung. Die Gründe dafür sind vielfältig – als Argumente für separate Beschulung taugen sie wenig.
Wahlfreiheit
D'accord; niemand sollte zu einer inklusiven Beschulung gezwungen werden. Nachdem einige erhitzte Gemüter Anfang der 2000er Jahre die Abschaffung aller Förderschulen gefordert hatten, wird das Thema inzwischen deutlich differenzierter betrachtet. Natürlich haben Menschen mit Behinderung das Recht auf einen Schutzraum. Natürlich gibt es Kinder, denen der Besuch an einer überfüllten Hauptschule schlechter bekommt als eine individuelle Betreuung von ausgebildeten Förderpädagog*innen in einem kleinen Klassenverband.
Wahlfreiheit, und darauf sollte es doch ankommen, heißt eben, überhaupt eine Wahl zu haben. Und diese gab es viele Jahre nicht. Ein Zustand, den Höcke begrüßt. Dabei geht es ihm freilich nicht um den „Rollifahrer, der voll geistig da ist“ – der wäre zu verkraften. Es geht um jene, die nach seinem Menschenbild nicht voll da sind. Sie sollen draußen bleiben. Zu ihrem Besten. An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass das Trio zwar ein Loblied auf die Differenzierung singt, sich aber offenbar noch nie mit lernzieldifferentem Unterricht befasst hat. Bedeutet: Kinder verschiedener Begabungen werden in einem Klassenverband mit verschiedenen Anforderungen beschult und wachsen damit auf, dass es normal ist, verschieden zu sein. Und genau deshalb ist Inklusion das Gegenteil von Gleichmacherei.
Wie würde sich Greta Thunberg entscheiden?
Immer wieder betont wird der untergrabene Leistungsgedanke. In den Ausführungen der drei zählt dieser allerdings nur für Kinder ohne Behinderung. Fortschritte, die Kinder mit Behinderung erzielen können, wenn sie eine Regelschule besuchen, werden ausgeblendet. Dabei ist es doch denkbar, dass Kinder mit Sprachbehinderung diese schneller verlieren, wenn sie viel Zeit mit Kindern verbringen, die keine Probleme beim Sprechen haben.
Völlig ausgeblendet wird auch die Tatsache, dass an Förderschulen sehr wenig Schulabschlüsse gemacht werden. Wer einen solchen anstrebt, sieht sich an einer Förderschule oft nicht hinreichend gefördert. Dies ist dann auch für die Autisten ein Problem, welche Höcke gern aufgrund ihres unbestrittenen Ruhebedarfes an Förderschulen sehen möchte. Schwer vorstellbar, weshalb in Höckes Welt ein hoch talentiertes Mädchen wie Greta Thunberg dann zwischen Haupt- und Realschulabschluss wählen müsste.
Höckes Vater
Wie in jeder Diskussion um das Thema Inklusion geht auch in Schnellroda nichts ohne anekdotische Evidenz. Behutsam baut Höcke einen Spannungsbogen auf und erzählt die Geschichte eines sinnesbehinderten Mannes, der in den 1950er Jahren „Opfer ungewollter Inklusion“ war, in Ermangelung von Alternativen. Es handelte sich um seinen Vater, der später aufgrund solcher Erfahrungen depressiv wurde.
Diese Geschichte stimmt tatsächlich traurig und nachdenklich. Sie zeigt aber auch die Vielfalt an Beeinträchtigungen, über die wir sprechen. Gerade im Bereich der Sinnesbehinderten mag eine separate Beschulung anfangs gut sein, da nicht jede Schule das Personal und die Ausstattung für sie vorhalten kann. Höcke beschreibt seinen Vater als klug, er habe studiert. Solche sehbehinderten Kinder haben aktuell das Problem, dass es zwar sehr gute Blindenschulen gibt, diese aber kein Abitur anbieten.
Die Lösung? Ja, Inklusion. Es gibt inzwischen Gymnasien, die sich entsprechend technisch ausgestattet haben und blinde wie sehbehinderte Schüler*innen zum Abitur führen. Ohne das Beharren von Akteuren auf die UN-Behindertenrechtskonvention, welche Ellen Kositza fortwährend mit der Menschenrechtskonvention durcheinanderbringt und Björn Höcke für ein Instrument für Entwicklungsländer hält, wäre das schwer durchsetzbar gewesen.
Eine Belastung?
Abschließend wird der Kreis zum Sommerinterview geschlossen. Höcke betont noch einmal, dass er missverstanden wurde. Er habe lediglich Menschen mit Behinderung in einer Aufzählung von Belastungsfaktoren für Schulen erwähnt. Hier sei ihm für den nächsten Urlaub die Lektüre von Götz Alys Sachbuch „Die Belasteten“ empfohlen. Aly beschreibt darin, wie Verbrechen an Menschen mit Behinderung möglich wurden. Weil man sie als Belastung betrachtete und zur Belastung erklärte. Man muss Höcke nicht unterstellen, dass er ein Befürworter der Euthanasie wäre. Hier sollte die nachvollziehbare Empörung eine kleine Verschnaufpause einlegen. Menschengruppen als Belastung zu bezeichnen, ist ein Angriff auf die Fundamentalgleichheit des Menschen. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.
Hanka Kliese ist sächsische SPD-Abgeordnete und u.a. Sprecherin für das Thema Inklusion.