Rezension
Faktenwissen vom Antisemitismusforscher Samuel Salzborn erschienen
Im Rahmen der Reihe „Essentials“ ist die Fachpublikation „Antisemitismustheorien“ des renommierten Antisemitismusforschers Samuel Salzborn erschienen. Die kompakte Übersicht über Theorien und Formen des Antisemitismus richtet sich an einen anspruchsvollen Leser*innenkreis.

Die 38-seitige Kurzpublikation von Salzborn, zugleich Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus und außerplanmäßiger Professor am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, fasst die theoretischen Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung zusammen. Berücksichtigt werden dabei die Mikro-, die Meso- und die Makroebene. Dargestellt werden Fragen des Individuums und der antisemitischen Persönlichkeit, der sozialen Vermittlung in Kultur, Gesellschaft und Masse sowie der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturen von Antisemitismus. Eine Verbindung von theoretischen Erkenntnissen der Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaft/Philosophie mit Blick auf Antisemitismus wird geliefert.
Ausgangspunkt der Darstellung der „Antisemitismustheorien“ ist die Dialektik der Aufklärung (1947) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1947), die laut Salzborn „einen der ambitioniertesten strukturtheoretischen Ansätze innerhalb der Antisemitismusforschung“
formuliert haben. Mit diesem Ansatz werden die Ambivalenzen des Antisemitismus in seinen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft am ehesten begreifbar gemacht, so der Antisemitismusforscher. Demnach haben Horkheimer/Adorno betont, dass der Antisemitismus nicht den ökonomischen Nutzen im Blick hat, sondern dass es vielmehr um psychische Dispositionen geht, wobei Antisemitismus nur vordergründig rational intentionslos ist.
Unterschied zu anderen Diskriminierungsformen
Salzborn zeigt auf, dass Antisemitismus eine Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, aus kognitiven und emotionalen Elementen ist. Als Weltanschauung unterscheidet sich Antisemitismus grundlegend in seiner Struktur von anderen Formen von Diskriminierung. Antisemitismus basiert auf Projektionen, die im antisemitischen Weltbild als Verschwörungsmythen formuliert wurden. Die antisemitische Phantasie einer jüdischen Weltverschwörung, so Salzborn, sei der deutlichste Ausdruck eines Wahnweltbildes, von dem der Nationalsozialismus in barbarischer Weise gezeigt habe, dass es dem völkischen Ideal der Weltbeherrschung durch Vernichtung entsprang. In der antisemitischen Vernichtung erträumen sich demnach die Antisemit*innen die Erlösung von ihrer größten Angst: der vor dem Tod. Antisemitismus ist letztlich eine Art zu denken und eine Art zu fühlen: Antisemitismus ist zugleich Unfähigkeit wie Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen.
Das Buch, ein Kurzabriss der Erkenntnisse von Forschungen Salzborns aus fast zwei Jahrzehnten, ersetzt nicht die Lektüre der klassischen theoretischen Arbeiten, sie erübrigt nicht die Einarbeitung in zentrale erkenntnistheoretische Kontexte der Antisemitismusforschung wie etwa der Psychoanalyse oder der Kritischen Theorie, wie der Autor selbst schreibt.
Samuel Salzborn: Antisemitismustheorien. Springer VS Wiesbaden, 38 Seiten, Wiesbaden, 2022