Neue Stärke

Erfurt: Prozessbeginn nach rassistischem Überfall

Mehr als zwei Jahre nach einem brutalen Überfall auf drei Männer aus Guinea in Erfurt hat vor dem Landgericht Erfurt nun der Prozess gegen zehn Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung begonnen. Der erste Verhandlungstag stand im Zeichen der Täter-Opfer-Umkehr.

Mittwoch, 30. November 2022
Kai Budler
Insgesamt zehn Personen müssen sich derzeit vor Gericht verantworten, Foto: Kai Budler
Insgesamt zehn Personen müssen sich derzeit vor Gericht verantworten, Foto: Kai Budler

Mehr als zwei Jahre nach der Tat beginnt nun der Prozess gegen neun Männer und eine Frau, die sich vor dem Landgericht Erfurt unter anderem wegen gemeinschaftlich begangener gefährlicher Körperverletzung verantworten müssen. Florian R. und Marcel K. wirft die Staatsanwaltschaft zusätzlich Volksverhetzung und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vor. Die für Februar geplante Verhandlungseröffnung platzte wegen fehlender Räumlichkeiten, jetzt startet der Prozess unter strengen Sicherheitsmaßnahmen in einem Ausweichraum des Landgerichts. Auf der Anklagebank sitzen hinlänglich bekannte Neonazis aus Erfurt wie Enrico Biczysko, Daniel P. und Philipp V., die wie andere der Angeklagten zum damaligen neonazistischen Verein „Neue Stärke Erfurt“ (NSE) und seinem Umfeld gehörten. Aus diesen Strukturen entstand im Mai 2021 die Kleinstpartei „Neue Stärke Partei“ (NSP). Gegen Parteianhänger aus Baden-Württemberg ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat.

Polizei ermittelte kurzzeitig gegen Opfer

Ein Teil der Angeklagten betritt den Gerichtssaal mit Kapuze, Sonnenbrille und Mundschutz, Marcel K. wird von Justizbeamten in Handschellen in den Saal geführt. Der Angeklagte Justin S. ist gar nicht erst gekommen und trifft erst nach einer polizeilichen Vorladung ein. Ein Teil der Rechtsanwälte kommt aus der extrem rechten Szene oder ist dort als Rechtsbeistand sehr beliebt. Dazu gehören etwa Andre Picker aus Nordrhein-Westfalen sowie Andreas Wölfel und Christina Reißmann aus Bayern. Daniel P. etwa lässt sich von dem bayrischen Anwalt Günther Herzogenrath-Amelung vertreten, der in der Szene seit mehr als 20 Jahren als Rechtsbeistand beliebt ist und Mitglied des rechtsradikalen „Deutschen Rechtsbüros" ist. Stefanie B. hat Roland Kleinhenz aus Erfurt als Anwalt engagiert, der 2013 für die islamfeindliche Partei „Pro Deutschland“ in Thüringen als Spitzenkandidat aufgetreten war. In sozialen Medien fiel er unter anderem mit Kommentaren wie „Heil Deutschland!“ und der Verherrlichung der Wehrmacht auf.

Die Rekonstruktion der Ereignisse erschweren fehlende oder lückenhafte Erinnerungen ebenso wie der Alkoholkonsum in der entsprechenden Nacht vor 28 Monaten. So auch beim Angeklagten Florian R., der vor Gericht zu den Tatabläufen aussagt. Nach seinen Angaben fand in den Neonazi-Räumen eine „Pinkel-Party“ statt. Dazu eingeladen hatte Woloda W., der ebenso wie einige der Angeklagten von der Partei „Der Dritte Weg“ zur NSE gewechselt war. Zusätzlich hatte R.s Freund Marcel K. an diesem Tag Geburtstag. Mindestens zehn Bier habe er getrunken, dazu noch Wodka und Schnaps, sagt R., der sich vor Gericht zusätzlich wegen Volksverhetzung und des Verwendens Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen aus dem Februar 2021 verantworten muss. An einer Straßenbahnhaltestelle hatte er einen Migranten mit „Heil Hitler“ angesprochen und erklärt, „du wärst in die Kammer gekommen“. Im Sommer 2020 aber habe er noch nichts gegen Migrant*innen gehabt, beteuert R. auf die Frage seines Anwalts. In der Tatnacht sei vielmehr er von den Männern aus Guinea angegriffen, geschlagen und getreten worden, als er vor der Immobilie stand. Dies hatte er schon nach der Tat bei der Polizei ausgesagt. Aus diesem Grund ermittelte die Staatsanwaltschaft kurzzeitig gegen die Männer aus Guinea wegen Körperverletzung.

Insgesamt zehn Personen müssen sich derzeit vor Gericht verantworten, Foto: Kai Budler
Die von der "Neuen Stärke" genutzte Räumlichkeit in Erfurt, die jedoch mittlerweile nicht mehr genutzt werden kann, Foto: Kai Budler

Mit einer Demonstration gegen Neonazis und ihre Übergriffe in der Erfurter Innenstadt am 1. August 2020 wollten mehrere Hundert Personen ihrer Solidarität mit einer Gruppe Jugendlicher Ausdruck verleihen, die Ende Juli vor der Staatskanzlei überfallen wurden. An dem Angriff waren auch Neonazis beteiligt. Doch noch in der Nacht vor der Demonstration bekam das Anliegen neue Aktualität, denn vor einer von Neonazis genutzten Immobilie im Erfurter Stadtteil Herrenberg wurden drei Männer aus Guinea unter rassistischen Parolen attackiert. Zwei von ihnen wurden verletzt, einer schwebte zeitweise in Lebensgefahr. Zwölf größtenteils bereits bekannte Tatverdächtige nahm die Polizei fest, die sie der Neonazi-Szene zuordnete.

Der überwiegende Teil der anderen Angeklagten zieht es vor Gericht vor, zu schweigen, neben der Aussage von R. kündigte lediglich Daniel P. über seinen Anwalt an, Angaben zur Sache machen zu wollen. Seit Ende 2020 ist die Neonazi-Immobilie auf dem Herrenberg Geschichte, doch nach Zählung der Thüringer Opferberatungsstelle ezra bleibt Erfurt auch ohne sie die Kommune mit der landesweit höchsten Zahl rassistischer Angriffe. In der aktuellen Verhandlung fordert ezra eine Berücksichtigung des rassistischen Tatmotivs und des neonazistischen Hintergrundes der Täter in der Strafzumessung. Für den Prozess sind bislang Termine bis Ende Februar 2023 angesetzt.

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