Henstedt-Ulzburg-Prozess

Dreieinhalb Jahre Gefängnis für rechte Autoattacke gefordert

Mit einem tonnenschweren Pick-up fuhr Melvin S. in Henstedt-Ulzburg absichtlich antifaschistische Demonstrant*innen an. Nach 20 Prozesstagen vor dem Kieler Landgericht hat die Staatsanwaltschaft am Montag verlangt, das frühere AfD-Mitglied wegen versuchten Totschlags zu verurteilen. Die Verteidigung des 23-Jährigen plädierte auf Freispruch.

Montag, 11. Dezember 2023
Joachim F. Tornau
Auch heute fand vor dem Gericht erneut eine Kundgebung statt, Foto: Joachim F. Tornau
Auch heute fand vor dem Gericht erneut eine Kundgebung statt, Foto: Joachim F. Tornau

Ganz am Ende, als ihm die Gelegenheit zum letzten Wort vor dem Urteil eröffnet wurde, da nahm Melvin S. lange Anlauf. Er atmete schwer, dachte nach, fing fast an zu sprechen und sagte dann doch: nichts. Kein Versuch mehr, die behauptete Reue glaubhafter zu machen. Kein Versuch, Worte der Entschuldigung zu finden, die seine Opfer akzeptieren könnten. Gerade hatte Verteidiger Jens Hummel gefordert, den 23-Jährigen freizusprechen, und ihm bescheinigt, was wohl eine Distanzierung von rechtem Gedankengut ausdrücken sollte: „Mein Mandant bewegt sich heute in einem völlig normalen bürgerlichen Umfeld.“

Doch was sich der Angeklagte bis dahin hatte anhören müssen, hatte ihm ganz offensichtlich zugesetzt: Nach dem Willen von Staatsanwalt Lorenz Frahm soll das frühere AfD-Mitglied wegen seiner Autoattacke auf Teilnehmer*innen einer Kundgebung gegen die Rechtsaußenpartei in Henstedt-Ulzburg zu dreieinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt werden. Nach 20 Verhandlungstagen vor dem Kieler Landgericht hält der Anklagevertreter den Vorwurf des versuchten Totschlags für erwiesen.

„Weglaufenden Menschen hinterhergefahren“

Die Worte, die der Staatsanwalt wählte, waren nüchtern. Was er beschrieb, aber wurde dadurch nicht minder fürchterlich. „Gleichmäßig und kontrolliert“ habe Melvin S. den tonnenschweren Pick-up seiner Mutter auf den Gehweg gelenkt. Er habe die „Ausweichbewegung“ der Demonstrant*innen, die sich vor dem silbernen VW Amarok in Sicherheit bringen wollten, durch einen Schlenker auf den angrenzenden Grünstreifen „nachvollzogen“. Und dann sei er zwei weiteren weglaufenden Menschen hinterhergefahren und habe auch sie erwischt. „Es erfolgte keine nachvollziehbare Beschleunigung“, sagte Frahm. „Aber eben auch keine nachvollziehbare Bremsung.“

Seit Juli muss sich Melvin S. vor der Jugendstrafkammer verantworten, weil er in Henstedt-Ulzburg, einer schleswig-holsteinischen Gemeinde vor den Toren Hamburgs, vier Antifaschist*innen gezielt angefahren haben soll. Vor mehr als drei Jahren war das, im Oktober 2020. Am Montag nun wurde plädiert. „Er war sich der potenziell tödlichen Wirkung eines Fahrzeugaufpralls bewusst“, sagte der Staatsanwalt. Dass Melvin S. beteuert hatte, nur einem Freund geholfen zu haben, der von vermummten und mit Schutzwesten und Quarzhandschuhen ausgerüsteten Antifa-Aktivist*innen angegriffen worden sei, ließ der Anklagevertreter nicht gelten. Eine strafbefreiende Nothilfe komme schon deshalb nicht in Betracht, weil der Angeklagte und seine drei Begleiter die Auseinandersetzung, die zudem weit weniger dramatisch abgelaufen sei als behauptet, selbst ausgelöst hätten.

„Das gesamte Verhalten der Gruppe auf der Kundgebung war darauf ausgelegt, eine Reaktion zu provozieren“, sagte der Staatsanwalt. So hatte Melvin S. mit „Reichsbrause“ posiert, einer von dem thüringischen Neonazi Tommy Frenck für 14,88 Euro pro Kiste verkauften Limonade in NS-Optik. Und einer seiner Freunde verklebte Sticker des rechtsextremen Netzwerks „Ein Prozent“.

Rechte Ideologie

Der Staatsanwalt befand: Die rechte Gesinnung des Angeklagten, der die AfD kurz nach jenem Oktobertag auf Wunsch der Partei verlassen hatte, dürfte bei der Tat „zur Senkung von Hemmschwellen beigetragen“ haben. Deutlich weiter gingen die Vertreter der Nebenklage. Von einem „Tötungsversuch aus Hass auf den politischen Gegner und aus Rassismus“ sprach Rechtsanwalt Björn Elberling, darauf verweisend, dass eine der Betroffenen eine Schwarze Frau ist. Mit seinem Versuch der Täter-Opfer-Umkehr folge Melvin S. einem Muster, das kennzeichnend sei für rechte Ideologie: Um sich gegen eine vermeintliche Bedrohung des deutschen Volks durch Linke oder eine herbeifantasierte „Umvolkung“ zu wehren, sei jedes Mittel recht. Die Attentäter von Utøya und Halle hätten ihre Morde so gerechtfertigt, ebenso der Mörder von Walter Lübcke. „Und das ist eben auch die Ideologie von Melvin S.“

In einem Chat mit seinem gleichgesinnten Freund Julian R., einem der Begleiter am Tattag und der einzige, mit dem er auch heute noch befreundet ist, hatte der Angeklagte geschrieben: „Ich hasse die Linken so sehr, wie du die Kanacken hasst. [...] Es werden immer mehr, bis wir als deutsche, als weiße Menschen ausgestorben sind.“

Auf seinem Handy fanden sich zudem nationalsozialistische Propagandavideos. „Ihn als ‚Faschisten‘ zu bezeichnen, ist keine Herabwürdigung, wie der Verteidiger meint“, bilanzierte Elberling. „Sondern eine korrekte Zusammenfassung.“ Einen konkreten Strafantrag stellten die Nebenklagevertreter nicht. Schmerzensgelder für ihre Mandant*innen hatten sie bereits an einem der vorangegangenen Verhandlungstage beantragt. Jetzt beschränkten sie sich darauf, die Angemessenheit von Jugendstrafrecht anzuzweifeln. Neonazismus und Rassismus dürften nicht als „jugendtypisch“ verharmlost werden, sagte Anwalt Alexander Hoffmann. „Eine Parteimitgliedschaft ist sogar das Gegenteil von jugendlicher Unreife.“

Verteidiger: Angeklagter sei „überfordert“ gewesen

Verteidiger Jens Hummel hingegen beharrte darauf, dass die Tat allein die Reaktion auf einen „rechtswidrigen Angriff“ durch die Gegendemonstrant*innen gewesen sei, und plädierte auf Freispruch. Der Angeklagte sei in der damaligen Situation „überfordert“ gewesen, er habe in Sekundenbruchteilen entscheiden müssen, ob und wie er seinem Freund zu Hilfe kommen sollte. „Eine Abwägung war ihm nicht möglich.“ Ein politisches Motiv habe es nicht gegeben, jedenfalls nicht aufseiten seines Mandanten, betonte der Verteidiger – und versuchte, die Betroffenen der Tat in Misskredit zu bringen und ihre Aussagen in Zweifel zu ziehen. Schon auf die Schmerzensgeldanträge hatte Hummel reagiert, indem er bestritt, dass die geltend gemachten körperlichen und psychischen Folgen tatsächlich auf die Autoattacke zurückzuführen sind.

Am 21. Dezember soll das Urteil verkündet werden.

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