Demonstration
Direkte Aktion für radikale Abtreibungsgegner?
Am 18. „Marsch für das Leben“ in Berlin beteiligten sich weniger Demonstranten, doch der Auftritt einer US-Aktivistin signalisiert mehr Härte im Kampf – nicht nur gegen Abtreibung.

Als Geschenk für Interessierte gab es einen kleinen Embryo aus Plastik in der Größe eines Schlüsselanhängers. Schock und Empörung sind bei selbsternannten „Lebensschützern“ Kalkül. Die christliche Gruppe „Sundays for Life“ aus Augsburg will an ihrem Infostand beim „Marsch für das Leben“ vor dem Brandenburger Tor in Berlin darüber aufklären, welch großes Übel eine Abtreibung bedeute. „Wenn Sie einen Moment warten, dann zeigen wir hier gleich einen Film mit den vier Arten von Abtreibung“, wirbt Mathias Blum, einer der Vorstände des Vereines, der gynäkologische Behandlungsstühle schon mal als „Massenvernichtungswaffen“ bezeichnete. In dem gesellschaftlichen Engagement für sichere und legale Schwangerschaftsabbrüche sieht „Sundays for Life“ „menschenfeindlichen Extremismus“.
Aus Augsburg stammt auch einer der ältesten „Lebenschutz“-Vereine, die „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA). Die bayerische Autorin Lina Dahm weist auf der Homepage des antifaschistischen Aida-Archivs darauf hin, dass Bayern ein Kristallisationspunkt der sogenannten „Lebensschutzbewegung“ sei. So habe ALfA eigenen Angaben zufolge 11.000 Mitglieder in 30 Regionalverbänden, neun davon in bayerischen Städten. Beim „Marsch für das Leben“ in Berlin präsentieren sich ALfA und ihre Jugendorganisation, die „Jugend für das Leben“ (JfdL), exponiert mit einem Infostand bei der 18 Auflage. Organisiert werden die alljährlichen Demonstrationen vom „Bundesverband Lebensrecht“, der 25.000 Mitglieder haben soll. Gemeinsam mit anderen überwiegend religiösen Gruppierungen möchte der Bundesverband verhindern, dass Schwangerschaftsabbrüche in der Gesellschaft normalisiert werden.
Kritik von Hochschulpfarrer
Wer sich an diesem Marsch beteiligt, muss sich nach Ansicht des Würzburger Hochschulpfarrers Burkhard Hose die Frage gefallen lassen, ob er sich nicht zum Teil einer antiliberalen Kulturkampf-Inszenierung mache ? Hose weist in einem kritischen Kommentar bei „katholisch.de“ darauf hin, wie umstritten die Märsche seit Jahren in den christlichen Kirchen seien. Auch weil Vertreter rechtsextremer Parteien mitmarschierten oder dort Parolen wie „Babycaust“ zu lesen seien. Es gäbe, so Hose in seinem Kommentar, eine „große inhaltliche Schnittmenge“ zwischen der „Lebensschützer“-Szene und anderen Bewegungen, die „gegen alles zu Felde ziehen, was in ihren Augen die vermeintliche Verkommenheit westlicher Gesellschaften auszeichnet. Im Visier sind das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ebenso wie das überkommene binäre Geschlechtersystem. Hose weist auf die beim „Marsch für das Leben“ symbolträchtig verwendeten zahlreichen Holzkreuze hin. Ein Ritual, welches ihn an „Pegida-Zeiten“ erinnere.
Durchaus auch in ländlichen Regionen der Bundesrepublik fällt die Nähe zwischen fundamentalen Christen und der Corona-Protestbewegung auf. In der wissenschaftlichen Studie „Quellen des Querdenkertums“ von Oliver Nachtwey, Nadine Frei und weiteren wird am Beispiel Baden-Württembergs versucht, Anknüpfungspunkte aufzuzeigen. Als mögliche Erklärung für die Teilnahme von Christen bei den Corona- und „Querdenken“-Protesten erkennen die WissenschaftlerInnen vor allem die Bibeltreue und „eine wortfundamentalistische Hermeneutik“, derentsprechend Gott mehr gehorcht werden solle als den Menschen. Die Bibel stehe vor allem in evangelikalen Kreisen als Autorität über allen anderen Autoritäten, auch über Staat und Gesetz, heißt es.
Szene-Medien vor Ort
Christlich-evangelikales Milieu und konservativ-katholische Strukturen der „Lebensschutz“-Bewegung haben in der Vergangenheit zahlreiche antimoderne Proteste organisiert und seien zudem „mit der AfD bestens vernetzt“. Das zeigt sich deutlich an Personen wie Hedwig von Beverfoerde, Gründerin der „Demo für Alle“, die sich auch an „Querdenken“-Protesten beteiligte. Die Aktivistin ist gemeinsam mit ihrem Ehemann beim „Marsch für das Leben“ in Berlin dabei. Sie begrüßen Freunde, kennen viele, vor allem der vornehm gekleideten Teilnehmenden. Die Bühne überlässt Aktivistin Beverfoerde in diesem Jahr US-amerikanischen Rednern oder politischen Vertretern der CDU wie Hubert Hüppe und Sylvia Pantel.
Christliche Medien wie IDEA sind vor Ort. Das verschwörungsideologische Nachrichtenportal AUF1 mit über 200.000 Followern bei Telegram hat ihren früher beim Compact-Magazin aktiven Reporter Martin Müller-Mertens geschickt, der führt ein wohlwollendes Interview mit einem jungen Teilnehmenden. Die NPD ist mit DS-TV vertreten. FotografInnen, die Masken tragen sind beim „Marsch für das Leben“ ebensowenig beliebt wie bei rechten Corona-Protesten. Die dju Berlin-Brandenburg berichtet von Übergriffen auf Pressevertreter. Gegendemonstrantinnen wurden als „Feminazis“ beschimpft.
AfD-Politiker vor Ort
Auch die prominenteste Abtreibungsgegnerin, AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch, redet in diesem Jahr nicht vor großem Publikum. Gemeinsam mit Bodyguards und ihrem Ehemann, dem rechten Spindoctor Sven von Storch, steht sie ganz vorne und schüttelt die Hände zahlreicher Menschen. Masken trägt so gut wie niemand unter den rund 2.500 Demonstranten. Neben ihr im Trenchcoat steht Joachim Kuhs, Vorsitzender der „Christen in der AfD“. Der rechte Europaparlamentarier Kuhs hat sich immer wieder in die Corona-Proteste eingebracht und bei Facebook gefordert: „Schmeißt Lauterbach endlich raus!“.
Zu einem einflussreichen Netzwerk von Evangelikalen zählt auch Hartmut Steeb, der ebenfalls in Berlin mitmarschiert und beim ökumenischen Gottesdienst auf der Bühne steht. Der Stuttgarter ist Vize-Vorsitzender des „Bundesverband Lebensrecht“, aber auch Mitinitiator eines Aufrufs „Christen stehen auf“, die möchten, dass in der Debatte um eine Impfpflicht Geimpfte und Ungeimpfte nicht gegeneinander ausgespielt werden.
„Frankfurt Declaration“
Steeb ist Autor der „Corona-Informationen“ beim „Gemeindenetzwerk“, dort spricht er mehrmals hinsichtlich von einer „Corona-Angst-Pandemie“ und empfiehlt „alternative Medien“ wie Reitschuster, Nachdenkseiten oder ServusTV. Er verlinkt dort im Januar 2022 eine „Protestkarte“ von Simon Kaupert, Aktivist der rechtsextremen Plattform „Ein Prozent“. Auch mag Steeb laut Webseite des „Gemeindenetzwerks“ „Querdenken“-nahe Organisationen wie „Studenten stehen auf“ oder „Ärzte stehen auf“. Politische Gemeinsamkeiten zwischen religiösen Fundamentalisten und Völkischen bestehen durchaus bei Themen wie Abtreibung, Frauen- und Familienbild, Gender-Ideologie oder Erziehungsidealen.
Der AfD-Europaparlamentarier Kuhs hat gemeinsam mit vielen Evangelikalen 2022 die international umstrittene „Frankfurt Declaration“ unterzeichnet. Darin geht es Gott als „alleinigen Machthaber und der höchsten Gesetzgeber“ zu markieren und den „sich abzeichnenden Totalitarismus des Staates“ in seine Grenzen zu verweisen. Anlass der Erklärung sind das mit Gott begründete Bedürfnis nach Widerstand gegen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, aber auch liberale Vorstellungen von Familie, Ehe, Geschlecht und Sexualität. „Wir lehnen jede Art von Täuschung, Angstmacherei, Propaganda und Indoktrination durch den Staat und die Massenmedien sowie jede voreilige, selektive oder ideologisch manipulierende Berichterstattung über umstrittene Zeitfragen ab“, heißt es. Die „Frankfurter Erklärung“ lässt sich als Aufruf zum Widerstand verstehen, wenn weltliches Gesetz „im Widerspruch zum Göttlichen“ stehe. Unterschrieben haben weitere AfD-Mitglieder. Einer der Erstunterzeichner provozierte im Juli am Rande des Christopher Street Day in Frankfurt die LGBT-Community.
Donald Trump als Heilsbringer
Antifeministische Ressentiments wie bei den „Lebensschützern“ gehen nicht nur von ultrareligiösen und rechten Gruppierungen aus, sondern finden auch Zuspruch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Hier soll der Einfluss ausgebaut werden. Die deutsche „Lebensschutz“-Bewegung orientiert sich an dem Vorgehen von „Pro Life“, die ein christliches Politikverständnis propagieren. In den USA werden die Evangelikalen, die größte Religionsgruppe, als bibeltreue Supermacht betrachtet – mit offensichtlichem Faible für Donald Trump, den viele wählten, weil er sich klar gegen Schwangerschaftsabbrüche positionierte.
Viele dieser Fundamentalisten verurteilen den modernen Lebensstil, verherrlichen die weiße Nation und feiern vor allem das erschütternde Urteil des Supreme Courts in den USA im Juni dieses Jahres. Das in der Verfassung verankerte Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch wurde quasi abgeschafft und mühsam erkämpfte weibliche Rechte auf körperliche Selbstbestimmung damit zunichte gemacht. Ähnliches erträumen sich die „Lebensschützer“ in Europa.
Abtreibungen mit Genozid gleichgesetzt
Lina Dahm, freie Journalistin, beobachtet die „Lebensschutz“-Szene seit Jahren und kennt die deutschen Bemühungen um gesellschaftliche Anschlussfähigkeit. So werde ein Spagat zwischen den Welten versucht, sagt Dahm. Da sind weihrauchschwenkende Priester mit Rosenkranz und andererseits Schilder auf denen Teilnehmende behaupten, den „wahren Feminismus“ zu vertreten.
Überrascht aber habe sie in diesem Jahr der härtere Kurs einer US-amerikanischen Gruppierung wie der „Progressive Anti-Abortion Uprising“ (PAAU), die ganz exponiert an der Spitze des Aufzuges mitlief. Es seien am Fronttransparent Parolen wie „Pro-choice? That's a lie. Babies never choose to die“ und „Do no harm“ gerufen wurden, das war neu.
Es ging lauter zu, dank PAAU-Gründerin Terrisa Bukovinac, so Dahm, „sie kommentierte die Räumung einer kleinen Blockade von Gegendemonstranten mit `Losers´. Das war gar nicht so freundlich, wie sie sich sonst nach außen geben“. Bukovinac bezeichnet sich bei Twitter als freundliche „Anti-Abtreibungs-Extremistin“ von nebenan. Angeblich links und atheistisch. Doch auf der Bühne in Berlin schlug sie härtere Töne an und rief: „Weltweite Abtreibungen gleichen einem globalem Genozid“. „Wir sind heute hier, weil wir eine gesellschaftliche Veränderung herbeibringen wollen“, fordert die PAAU-Gründerin in Berlin , „Wir müssen den Regeln einer gesellschaftlichen Umwandlung folgen, wir müssen direkt aktiv („direct action“) werden. Wir müssen bereit sein dorthin zu gehen, wo das Töten passiert, während es passiert!“