Jahresbulletin des Fritz Bauer Instituts

Die Ukraine unter deutscher Besatzung

Themenschwerpunkte von „Einsicht 2023“, dem aktuell erschienenen Jahresbulletin des Fritz Bauer Instituts, sind „Die Ukraine unter deutscher Besatzung. Mordgeschehen, Schauplätze, Gedenken“ und „Reparationsforderungen an die Bundesrepublik.

Freitag, 19. Januar 2024
Anton Maegerle
Coves des Bulletins "Einsicht 2023"
Coves des Bulletins "Einsicht 2023"

Während der Jahre von 1939 bis 1945 lebten über 200 Millionen Menschen in 22 Ländern mehrere Jahre unter deutscher Besatzung. Die Ukraine gehörte mit zu den Hauptschauplätzen des Vernichtungskriegs und des Holocausts. Ziel der NS-Machthaber war es, die Arbeitskraft der slawischen Bevölkerung auszubeuten und den „jüdischen Bolschewismus“ auszurotten.

Terror und Hunger prägten den Alltag in den besetzten Gebieten. Etwa acht Millionen der insgesamt rund 27 Millionen Opfer in der Sowjetunion stammten aus der Ukraine. Von den Juden in der Ukraine, die unter NS-Herrschaft gerieten, haben die Deutschen (und ihre einheimischen Helfer) ca. 98 Prozent ermordet. Gleiches gilt für die Bevölkerungsgruppe der Roma. Im ersten Themenschwerpunkt des Bulletins, der hier ausschließlich dargestellt werden soll, sind verschiedene Aspekte der Herrschaft in der deutsch besetzten Ukraine sowie die Folgen für das Leben der betroffenen Menschen dargestellt. Angemerkt sei, dass systematische empirische Studien zur Verfolgungs- und Vernichtungspolitik meist erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 entstanden.

Jüdische Gemeinschaft fast vollständig ausgelöscht

Bert Hoppe wendet sich in seinem Beitrag „Holocaust in der Ukraine. Vom antijüdischen Terror zum arbeitsteiligen Völkermord“ der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung im sogenannten Reichskommissariat Ostland zu, dem Teil der besetzten Ukraine, der unter deutscher Zivilverwaltung stand. Er zeigt, wie innerhalb von nur rund drei Jahren die einstmalig große und vielfältige jüdische Gemeinschaft fast vollständig ausgelöscht wurde und wer die Akteure waren.

Im Kapitel „Besatzungsalltag in der Charkiwer Oblast im Zweiten Weltkrieg“ führt Laura Eckl am Beispiel Charkiws, im Nordosten der heutigen Ukraine gelegen, den schwierigen Alltag der unterdrückten nichtjüdischen Zivilbevölkerung vor Augen. Sie untersucht unter anderem die Auswirkungen der Hungerpolitik auf die Menschen. Charkiw stand 22 Monate – von Oktober 1941 bis August 1943 mit kurzen Unterbrechungen – unter deutscher Militärbesatzung.

Völkermord an Roma fand lange keine Beachtung

Obwohl dies im Vergleich zu anderen deutschen Besatzungsregimes in Europa kurz war, waren diese Monate für die örtliche Bevölkerung mit extremem Leid verbunden. Die Stadt Charkiw verzeichnete die höchste Zahl an nichtjüdischen Zivilpersonen, die während des Zweiten Weltkriegs unter deutscher Besatzung an Hunger starben. Allein innerhalb eines Jahres, von Dezember 1941 bis Ende 1942, registrierte die Stadtverwaltung 13.139 Hungertote in der Stadt, die damals etwa 450.000 Einwohner hatte. Die Dunkelziffer über die registrierten Todesfälle hinaus dürfte weitaus höher liegen.

Aleksandr Kruglov zeigt den umfassenden und systematischen Charakter der Ermordung der Roma, die oft parallel zum Mord an den Juden stattfand. Der Völkermord an der Roma in den besetzten Gebieten der Sowjetunion wurde im Unterschied zum Völkermord an den Juden bis vor zwei Jahrzehnten wenig beachtet und erforscht. Wie die Juden unterlagen auch die Roma aufgrund ihrer
ethnischen Zugehörigkeit einer vollständigen Vernichtung. Die Gesamtopferzahl der Roma für die Zeit von 1941 bis 1943 auf dem Gebiet des Reichskommissariats liegt bei mindestens 7.000 Personen. Kruglov lebt heute in der Bundesrepublik. Er musste 2022 wegen des russischen Kriegs fliehen.

Holocaust-Überlebender Boris Zabarko

Der letzte Beitrag des Themenschwerpunkts ist Boris Zabarko gewidmet, einem der unermüdlichen Kämpfer für die Dokumentation, Erforschung und Erinnerung der Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung in der deutsch besetzten Ukraine. Katja Makhotina blickt gemeinsam mit dem Holocaust-Überlebenden auf sein Leben und seinen Einsatz für die überlebenden wie die getöteten Jüdinnen und Juden. Auch Zabarko musste wegen des Krieges aus der Ukraine fliehen und hat in der Bundesrepublik eine neue Heimat gefunden.

Im Jahr 1995 wurde in Frankfurt am Main die Stiftung „Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust“ gegründet. Das Institut ist ein Ort der Auseinandersetzung unserer Gesellschaft mit der Geschichte des Holocaust und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Es trägt den Namen Fritz Bauers, des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalts und maßgeblichen Initiators des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965). Seit 2002 hat das Institut seinen Sitz auf dem Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Einsicht 2023. Bulletin des Fritz Bauer Instituts, hrsg. vom Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main 15. Jahrgang, Ausgabe 24, November 2023, 136 Seiten. ISSN 1868-4211, als PDF kostenfrei abrufbar

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