Antisemitismus

Deutlicher Anstieg judenfeindlicher Zwischenfälle und Straftaten

Vergangenes Jahr haben Beratungs- und Meldestellen mehr antisemitische Zwischenfälle und Straftaten registriert. Besonders Proteste und Aktionen im Rahmen der Corona-Pandemie und nach der Zuspitzung des israelisch-palästinensischen Konflikts trugen dazu bei.

Dienstag, 28. Juni 2022
Michael Klarmann
Teilnehmer einer Corona-Demo in Ulm mit Gelben Stern als Beispiel für die Kategorie „Schoa-relativierende Selbstviktimisierung“
Teilnehmer einer Corona-Demo in Ulm mit Gelben Stern als Beispiel für die Kategorie „Schoa-relativierende Selbstviktimisierung“

Zurück gehen diese Erkenntnisse auf den Jahresbericht 2021 des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS). RIAS-Vorstand Benjamin Steinitz hat den Bericht am Dienstag in Berlin vorgestellt. Das Netzwerk baut seit 2018 Meldestellen für antijüdische Zwischenfälle auf. Vorfälle und Straftaten werden daher nun auch umfassender registriert. Die erfassten Vorfälle zeigten, dass Juden in Deutschland sich täglich bedrängt fühlen.

Insgesamt haben die Meldestellen des Netzwerks im vergangenen Jahr 2.738 antisemitische Vorfälle erfasst. Anders als in der Kriminalstatistik werden auch nicht strafbare antisemitische Vorfälle registriert. Es ging überwiegend etwa um Beschimpfungen und Schmierereien gegen Jüdinnen und Juden. Unter allen Taten waren vergangenes Jahr aber auch 63 Angriffe und sechs Fälle „extremer Gewalt“. 2020 hatte RIAS noch insgesamt 1.957 antisemitische Vorfälle erfasst. Jedoch vermutet man bundesweit weiter eine hohe Dunkelziffer.

Antisemitismus anpassungsfähiges Phänomen

Dass die Gesamtzahl nun auf die Dreitausendermarke zusteuere, sei erschreckend, sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein. Klein wohnte der Vorstellung des Jahresberichtes in den Räumen der Bundespressekonferenz bei. Er betonte, „jeder der gemeldeten Vorfälle [ist] auch ein Schritt zur Verkleinerung des Dunkelfelds“. Der Antisemitismusbeauftragte erinnerte auch daran, dass der Bericht zeige, „dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches und vielgestaltiges Phänomen ist und immer wieder neuen Anlässen angepasst wird.“

Antisemitismus ist demnach auch in vielen gesellschaftlichen Schichten, religiösen und politischen Milieus anzutreffen. Etwa die Hälfte aller 2021 von RIAS erfassten Vorfälle – 54 Prozent – ließen sich laut dem Bundesverband jedoch keiner klaren Weltanschauung zuordnen. Wo dies möglich war, bildeten Rechtsextremisten und Rechtspopulisten 2021 mit 17 Prozent die größte Tätergruppe (2020: 25%). Demgegenüber wurden 16 Prozent der registrierten Zwischenfälle und Taten 2021 dem verschwörungsideologischen Milieu zugerechnet (2020: 13%).

Gewalt gegen Juden und Nicht-Juden

Zu den sechs Fällen „extremer Gewalt“ zählt RIAS etwa den Angriff auf einen jüdischen Teilnehmer einer Mahnwache für Israel in Hamburg. Der Betroffene wurde von einem Passanten beleidigt und geschlagen. Der Angegriffene erlitt Verletzungen, die im Krankenhaus behandelt werden mussten. Im Vorfeld des Angriffs hatte jemand der Versammlung „Free Palestine“ und „Fuck Israel“ entgegengerufen. Laut RIAS wurde 2021 in Berlin an einem jüdischen Gemeindehaus eher zufällig festgestellt, dass ein Fenster beschossen worden war.

Zwei Fälle mit Todesfolge an Nicht-Juden listet RIAS ebenso im Jahresbericht, denn auch sie wurden mit antisemitischen Verschwörungsmythen begründet. In Idar-Oberstein erschoss ein Mann im Zuge eines Maskenstreits den Mitarbeiter einer Tankstelle. Bei einer polizeilichen Vernehmung begründete der Mann die Tat damit, dass er an „Soros und Merkel“ nicht herankomme. Der jüdische Philanthrop und Schoa-Überlebende Soros dient in verschwörungsideologischen Kreisen als Feindbild. In Königs Wusterhausen ermordete im Dezember ein Mann seine Ehefrau und seine Kinder, bevor er sich selbst tötete. Er hatte diese Tat vorab mit dem Glauben an eine jüdische Weltverschwörung begründet, die er mit der Corona-Pandemie und dem Impfen in Zusammenhang brachte.

Ansteigendes Gewaltpotential

Das hohe Gewaltpotential zeige sich laut RIAS auch in den 63 weiteren antisemitischen Angriffen, die dokumentiert wurden im Jahresbericht. Das entspreche im Jahr 2021 mehr als einem solchen Angriff pro Woche. In einem Fall wurde etwa die Tür eines jüdischen Mieters in Berlin mit Eiern beworfen. In einem Restaurant in Heidelberg bedrohte demnach ein Mann einen Gast mit Davidstern-Kette mit den Worten: „Ich bring Dich um! Ich bin Hitler.“

„Fast ein Drittel aller RIAS bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle standen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie“, betonte das Netzwerk am Dienstag. Hier seien auch Verschwörungserzählungen zu angeblichen jüdischen Drahtziehern oder Profiteuren hinter der Pandemie – etwa in Reden bei Versammlungen oder in den sozialen Medien – festgestellt worden. Zugleich registrierte RIAS eine Zunahme bei der Relativierungen von Verfolgung und Ermordung der Juden im Nationalsozialismus. Impfgegner trugen etwa gelbe „Judensterne“ mit der Inschrift „ungeimpft“, was RIAS als „Schoa-relativierender Selbstviktimisierung“ umschreibt.

Antisemitismus bis ins direkte Wohnumfeld

Zweiter Anlass für einen Anstieg bei den registrierten Vorfällen und Taten war die Zuspitzung des israelisch-palästinensischen Konflikts im Mai 2021. Allein in der Woche ab dem 10. Mai vergangenen Jahres dokumentierten die Meldestellen zehn Angriffe, 16 gezielte Sachbeschädigungen und 14 Bedrohungen mit Bezug zum arabisch-israelischen Konflikt. Insgesamt ordnete das Netzwerk 26 Prozent der 2021 erfassten antisemitischen Vorfälle dem israelbezogenen Antisemitismus zu. Das waren mit 723 Fällen etwa doppelt so viele wie noch 2020.

Betont wurde bei der Vorstellung des Jahresberichtes in Berlin, dass Antisemitismus den in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden im Alltag begegnet. Betroffene sehen sich solcher Vorfälle und Angriffe auf der Straße, im Internet und im direkten Wohnumfeld ausgesetzt. Vorfälle im Wohnumfeld werden dabei besonders bedrohlich wahrgenommen. Von solchen haben die RIAS-Meldestellen 128 erfasst. Derlei führe häufig zu einer anhaltenden Verschlechterung der Lebensqualität und schränke den Alltag teils stark ein.

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