Antikriegsfilm
„Der verlorene Zug“: Menschenwürde zerstören, Menschenwürde aufrichten
Im Aachener Apollo-Kino fand die Deutschlandpremiere des Films „Der verlorene Zug“ statt. Das packende Kriegsdrama schildert aus Sicht dreier Frauen das Geschehen rund um einen gestrandeten Deportationszug am Ende des Zweiten Weltkrieges.

Fast hatte man nicht mehr darauf gehofft. Winnie, zuvor überzeugtes BDM-Mädel, hängt das Hitler-Porträt doch noch ab. Als alle Dorfbewohner nach Einrücken der Rotarmisten zunächst geflohen waren und auf einer Lichtung Teile ihrer Kleidung und Hakenkreuz-Armbinden verbrannt haben, hatte die 17-Jährige als Einzige ihr braunes Hemd mit Gaudreieck und dem Emblem der Hitler-Jugend inklusive Hakenkreuz anbehalten. Nun hängt sie das bis dahin oft (im Hintergrund von Filmszenen) präsente Ölgemälde des „Führers“ ab, schaut ihn noch mal an, dreht ihn mit seinem Gesicht zur Wand und schiebt das Bild in eine Nische hinters Sofa ab. Bald darauf meldet der Volksempfänger Hitlers Tod.
„Der verlorene Zug“ ist ein Kriegs-, besser Antikriegsfilm, der aus weiblicher Sicht erzählt. Zwischen Endzeitstimmung, Rache, Hass, Trauer, Verzweiflung und die Wiederkehr eines Hauchs von Mitmenschlichkeit erzählt er die berührende und beklemmende Geschichte dreier Frauen. Bei aller Feindschaft nähern sich diese in der Mischung aus Anspannung und Stille einander an, helfen sich, stehen letztlich sogar gemeinsam am Grab des Geliebten von Simone, beides Juden aus den Niederlanden. Auf die Trauer folgt die dörfliche Siegesfeier der Rotarmisten am 8. Mai 1945. Simone tanzt am Ende doch noch mit. Plötzlich steht Winnie daneben und sagt, heute sei ihr Geburtstag. Niedergang und Aufbruch.
Tröbitz statt Theresienstadt
„Der verlorene Zug“ handelt vom Leben dreier junger Frauen – die im Film in der Muttersprache ihrer Figuren sprechen, was ihre Kommunikationsprobleme authentisch darstellt, während Zuschauer dank Untertiteln die Dialoge verstehen: Die jüdische Niederländerin Simone (Hanna van Vliet), die junge Deutsche Winnie (Anna Bachmann) und die russische Scharfschützin Vera (Eugénie Anselin) treffen im Frühjahr 1945 unfreiwillig zusammen. Denn kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs strandet ein Deportationszug Richtung Theresienstadt mit über zweitausend KZ-Gefangenen auf einer Weide nahe Tröbitz. Der Zugführer koppelt die Lok ab und flieht mit den SS-Wachmännern vor der Roten Armee, die bereits das Dorf besetzt hat.
Rotarmisten schicken die ausgehungerten Menschen in den Ort. Hier treffen sie auf Deutsche. Nachdem Typhus ausbricht, wird Tröbitz von der russischen Besatzung unter Quarantäne gestellt. Es werden Behelfslazarette eingerichtet und die Menschen sollen sich in dieser beengten Miniatur miteinander arrangieren, falls sie denn überleben wollen. Gleichwohl hassen die niederländischen Juden die „Nazischweine“, die Deutschen hassen die Juden und die nicht selten noch sehr jungen männlichen Rotarmisten wollen ihre neu gewonnene Macht ausleben. Ausgerechnet Scharfschützin Vera, also eine der wenigen Frauen in diesem Truppenabschnitt, zeigt den Jungmännern dabei wiederholt ihre Grenzen auf. Das 1945 besetzte Ostdeutschland, eingefangen im Brennglas Tröbitz.
Die drei Deportationszüge
Der Film hat eine historische Begebenheit als Hintergrund. Die Menschen im Zug sind zum Teil Juden aus den Niederlanden, die zunächst nach Bergen-Belsen deportiert worden waren. Wenige Tage vor der Befreiung dieses KZ deportierten die Nazis jüdische Häftlinge nach Theresienstadt. Dabei wurden zwischen dem 6. und 11. April 1945 drei Züge mit insgesamt rund 6.800 Menschen beladen. Der erste Transport wurde am 13. April von amerikanischen Truppen in der Nähe von Magdeburg befreit. Ein zweiter Zug mit überwiegend ungarischen Jüdinnen und Juden traf am 26. April 1945 in Theresienstadt ein.
Nachdem er mehr als zwei Wochen durch noch nicht von den Alliierten befreite Gebiete Hitler-Deutschlands gefahren war, blieb der letzte der drei Züge in Tröbitz, einem kleinen Dorf in Brandenburg, liegen. Am 23. April stießen die vorrückenden sowjetischen Truppen auf den Zug. Sie befreiten die ausgehungerten Gefangenen, darunter rund 1.500 Niederländer. Nach Ausbruch der Typhusepidemie dauerte es acht Wochen, bis diese unter Kontrolle war. Wochen später evakuierten die US-Amerikaner die Überlebenden, damit sie in die Niederlande zurückkehren konnten. Der Film ist zwar in diesen historischen Rahmen eingebettet, gleichwohl ist die Erzählung fiktiv.
„Männer kämpfen und Frauen bauen auf!“
Regisseurin Saskia Diesing schilderte bei der Premiere in Aachen ihre sehr persönlichen Bezüge zur Handlung. Ihr Onkel war damals als Baby einer der Menschen im Zug. Er überlebte mit seinen Eltern und zwei Brüdern. Der Onkel, sagte Diesing am Mittwochabend, habe nie über den Krieg geredet. Weder über den Krieg, noch über die KZ oder die Verfolgung der Juden. Er habe zu alldem geschwiegen. Nach seinem Tod 2011 habe sie auf der Beerdigung dann erstmals von dem Deportationszug erfahren. Und so kam ihr die Idee zum Film.
Anders, als die meisten Kriegsfilme, ist das Kriegsdrama „Der verlorene Zug“ nicht aus männlicher Sicht erzählt, sondern aus rein weiblicher. Regisseurin Diesing schilderte in Aachen, wie sie zunächst das Drehbuch mit einer weiblichen und zwei männlichen Hauptrollen verfasst habe. Bis ihr Ehemann sie darauf hingewiesen habe, dass sie das alles doch aus weiblicher Sicht erzählen solle. Der überwiegende Teil der Filme über den Zweiten Weltkrieg wurde bisher nämlich von Männern erzählt.
Das Zusammenkehren der Scherben
Diesing hat ihren feministischen Dreh zuvor in einem Text in der Pressemappe erklärt. Dort erläuterte sie ausführlich ihre Ambitionen: „Meiner Ansicht nach spielten die Frauen nach der Befreiung eine entscheidende, aber grundlegend andere Rolle als die Männer. Millionen von Frauen hatten ihre Ehemänner und Söhne verloren. Viele von ihnen, auch ihre Töchter, waren vergewaltigt und gedemütigt worden. Aber sie taten das, was Frauen seit Jahrhunderten tun: Die Scherben aufsammeln und weitermachen.“
In Aachen fasste sie das in einem prägnanten Satz zusammen: „Männer kämpfen und Frauen bauen auf!“ Kriege, wie damals und nun der in der Ukraine, würden die Würde des Menschen „zertreten“. Eine Stadt, Gebäude, Maschinen, Menschen, die Menschenwürde, all das könne binnen kurzer Zeit grundlegend zerstört werden. „Aber alles aufzubauen kostet viel Zeit und Mühe“, mahnte sie. Hier koppelt „Der verlorene Zug“ an. Während in der Berliner Trümmerlandschaft noch erbittert um jeden Straßenzug gekämpft wird, müssen sich junge Frauen in Tröbitz miteinander arrangieren. Und so verliert Winnie, deren Mutter von Rotarmisten ermordet wurde, den Glauben an Hitler. Derweil Vera den ihren an Josef Stalin auch verloren hat.
„Der verlorene Zug“ (Original: „Lost Transport“, 2021) ist eine internationale Koproduktion niederländischer, luxemburgischer und deutscher Produktionsfirmen. Der Film ist ab dem 27. April bundesweit in Kinos zu sehen.