Else-Frenkel-Brunswik-Institut

Das Erzgebirge als "Experimentierfeld für extrem rechte Strategien"

Laut einer neuen Publikation sind extrem rechte und antidemokratische Strukturen im Erzgebirgskreis fest etabliert. Mit der Gründung von Vereinen, Parteien und Wahllisten verfolgen diese zunehmend das Ziel der Einflussnahme sowie der Normalisierung extrem rechter Positionen.

Samstag, 15. Oktober 2022
Florian Schäfer
Corona-Demonstration im Mai 2022 in Zschopau / Quelle: Screenshot, Policy Paper 2022-3
Corona-Demonstration im Mai 2022 in Zschopau / Quelle: Screenshot, Policy Paper 2022-3

"Im Erzgebirgskreis sind extrem rechte Gruppen, die sich nahezu alle aus dem Neonazismus rekrutieren, weithin etabliert und gesellschaftlich akzeptiert." So lautet das Fazit der beiden Autor:innen Johannes Grunert und Anna-Louise Lang in ihrer gestern durch das Leipziger Else-Frenkel-Brunswik-Institut veröffentlichten Situationsanalyse rechter und antidemokratischer Strukturen im Erzgebirgskreis. Diese Strukturen, der Erfolg der AfD und der rechtsextremen Kleinstpartei der Freien Sachsen im Landkreis sehen sie als Ergebnis "jahrelanger Vorarbeit" sowie "jahrzehntelanger Verharmlosung".

Das Erzgebirge gilt ihnen gar als Vorreiter "in Hinblick auf extrem rechte Strategien" zur Gewinnung gesellschaftlichen Einflusses: "Hier wurden erste Vorläufer von Pegida erprobt und die extreme Rechte versuchte sich erfolgreich an neuen Organisationsformen, die anschließend bundesweit Anwendung fanden.“ Die Situationsanalyse bietet dabei nicht nur einen umfassenden Überblick über parteigebundene wie parteiungebundene extrem rechte Strukturen im Landkreis, sondern analysiert auch das Handeln und die Strategien derartiger Akteure. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sollen insbesondere dazu dienen, "der demokratischen Zivilgesellschaft und den politischen Entscheidungsträger*innen im Landkreis eine Unterstützung zu bieten.“

„Selbstverharmlosung“ - Der Weg zur Normalisierung

Einen Grund für die weitgehende gesellschaftliche Etablierung und Akzeptanz extrem rechter Kräfte in der Region sehen Grunert und Lang in einem vollzogenen Strategiewechsel: Während sich neonazistische Kameradschaften in der Vergangenheit bei Aufmärschen durch ein martialisches Außenbild kennzeichneten und um Abgrenzung bemüht waren, werde heute durch verschiedene Gruppen versucht, „möglichst anschlussfähige und niedrigschwellige Angebote zu schaffen“ - man organisiert Feste und ist Anbieter verschiedenster Freizeitangebote; das Vokabular der extremen Rechten wurde dabei chiffriert in „Heimat und Tradition“. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei der Gründung eigener Heimatvereine zu: Vermeintlich dem Zweck der „Traditionspflege“ verschrieben, wird über diese eine Legitimierung und Normalisierung extrem rechten Denkens angestrebt.

So legen die Recherchen der Autor:innen offen, dass sich seit Mitte der 2010er Jahre im Erzgebirgskreis vier Vereine gründeten, „die von Personen vertreten werden, die im Zusammenhang mit extrem rechten Gruppen Bekanntheit erreicht haben.“ Das Engagement in vermeintlich harmlosen Heimatvereinen soll dabei ihre Mitglieder in den Gemeinden wahrnehmbar machen, ihnen einen guten Ruf verschaffen, „ohne dass ihre politische Gesinnung als kritikwürdig auffallen würde.“ Dass diese Strategie erfolgreich ist, zeigt der durch zwei Identitäre gegründete „Haamitleit e.V.“. Obwohl Mitglieder und Personen seit der Gründung 2016 mehrmals an neonazistischen Veranstaltungen teilnahmen, organisiert man jährlich den „Erzgebirgischen Heimattag“, welcher von lokalen Unternehmen gesponsert und „von anderen Vereinen wie der Stadt im für Vereine üblichen Rahmen unterstützt“ wurde.

„Der Wolf im Schafspelz“

Der Erzgebirgskreis verfügt nicht nur über die bundesweit „höchste Dichte extrem rechter Heimatvereine“, eine weitere Besonderheit des Landkreises besteht in der überdurchschnittlichen Bemühung sogenannter „Tarnlisten“ durch rechte Akteure. Während die AfD etwa bei den Landtagswahlen 2019 im landesweiten Vergleich überdurchschnittlich viele Stimmen erhielt, „waren bei Kommunalwahlen eher die Freien Wähler, Freie Listen oder Wahlvereinigungen erfolgreich“ - auf diesen stehen „zumindest teilweise altbekannte Neonazis“. Die Vorteile dieser „Tarnlisten“ liegen auf der Hand: Personen aus der extremen Rechten erhoffen sich „bessere Chancen, indem sie ohne Parteibezug über die freien Listen“ kandidieren.

In der Konsequenz wird auch hiermit die Strategie einer Normalisierung verfolgt: Durch den Verzicht auf offensichtlich extrem rechte Labels und Parteilogos inszeniert man sich als bürgerlich und unverfänglich. Man erkannte, dass bürgerlicher Lokalpatriotismus in einer Region, „in der sowohl der Heimatbegriff als auch die Tradition allerorten hochgehalten“ wird, einen wichtigen Anknüpfungspunkt zur Bevölkerung darstellen. Gleichzeitig ermöglichen freie Listen, „ein breites Spektrum der Rechten zu vereinen, damit diese nicht in Konkurrenz gegeneinander treten.“ Die Aufstellung und Wahl der Listen zeige weiterhin, „dass die extreme Rechte nach tatsächlichem politischen Einfluss strebt und dass es ihr auch möglich war, diesen Einfluss zu bekommen.“

Erklärungsmodelle: „Modernisierungsverlierer“ & „Cultural-Backlash“

Die Autor:innen Grunert und Lang bieten mit ihrem Paper auch wissenschaftliche Erklärungsmodelle für die im Landkreis stark verankerten extrem rechten Strukturen an. Die Modelle sind dabei in einem engen Zusammenhang mit den lokalen Einstellungen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu sehen – bilden diese doch den Nährboden, „auf dem die antidemokratischen Einstellungen gedeihen“. Entgegen der Eigenwahrnehmung der Bevölkerung sei der Erzgebirgskreis „zwar klar als ländlicher Raum erkennbar“, könne aber im bundesweiten Vergleich, „keineswegs als infrastrukturell schwach bezeichnet werden.“ Dennoch handele es sich um eine Region „am äußersten Ende“ - „die Löhne und der Ausländeranteil sind besonders niedrig, der Altersdurchschnitt besonders hoch.“

Das Erzgebirge gilt als Schwerpunktregion evangelikaler Christen in Deutschland / Quelle: Screenshot, Policy Paper 2022-3
Das Erzgebirge gilt als Schwerpunktregion evangelikaler Christen in Deutschland / Quelle: Screenshot, Policy Paper 2022-3

So wird etwa mit der "Modernisierungsverlierer-Hypothese" argumentiert, in deren Vordergrund Ängste vor einem sozialen Statusverlust stehen. Die Wahl rechter Parteien wie der AfD wird somit mit der „Angst vor sozialem Abstieg“ erklärt, das Auftreten von Aggression und Frustration durch ein „Gefühl des Abgehängtseins“. Aufgrund der allgemein starken konservativen Prägung der Bevölkerung und der Verbreitung christlich-fundamentalistischer Einstellungsmuster, kommt auch die „Cultural-Backlash-Hypothese“ zur Anwendung: Nach dieser reagiert die Gesellschaft auf einen generationsübergreifenden Wertewandel mit einer antiliberalen Gegenreaktion, da der Wertewandel nicht von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilt „und von einigen sogar vehement abgelehnt“ wird. „Dabei bilden diejenigen, die den Wertewandel und die Liberalisierung ablehnten, eine Gruppe, deren Anliegen auch potenziell für populistische Kampagnen anfällig ist.“

Handlungsbedarf in dreierlei Hinsicht

Aus ihren Analysen leiten die Autor:innen Handlungsbedarfe in dreierlei Hinsicht ab. Erstens sehen sie die Notwendigkeit der Ausweitung eines kontinuierlichen und professionellen Monitorings rechter und rassistischer Gewalt sowie extrem rechter Strukturen. So könnten Radikalisierungsprozesse und Dynamiken früh erkannt und nicht zuletzt Möglichkeiten geschaffen werden, „auf diese Entwicklungen zu reagieren.“ Zweitens müsse die vorhandene aktive demokratische Zivilgesellschaft gestärkt werden. Gerade weil sich extrem rechte Ideologien zunehmend verschleiern, brauche es Zivilgesellschaft, „die diese kritisch einordnet, sich aktiv mit der Situation vor Ort auseinandersetzt und den menschenverachtenden Charakter öffentlich kritisiert.“

Drittens müssten sich Institutionen und demokratische Parteien klar von Demokratiefeinden abgrenzen. Da die Strategie der extremen Rechten auf Normalisierung und „ein Einsickern der eigenen Ideologie in die öffentliche Debatte“ abziele, würden „Kompromisse, aber auch eine punktuelle Zusammenarbeit, die sich im Erzgebirge an zahlreichen Stellen beobachten lässt“, nur zu einer Bestätigung extrem rechter Akteure führen. Außerdem dürfe nicht das Gefühl entstehen, „sich ohne Konsequenzen über das Gesetz und die Spielregeln eines demokratischen Zusammenlebens hinwegsetzen zu können.“ Eine kurzfristige Lösung für die Probleme im Erzgebirgskreis seien nicht in Sicht, es „brauche einen langfristigen, umfassenden und auf verschiedenen Ebenen angesiedelten Wandel der politischen Kultur.“ Ansonsten laufen weitere Generationen Gefahr, „ihre Sozialisierung in nahezu geschlossenen rechten Räumen zu bestreiten.“

Die vollständige Situationsanalyse ist hier abrufbar.

 

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