Paradigmenwechsel gefordert

Beratungsstelle warnt vor verfestigter rechter Präsenz im öffentlichen Raum

Der Dachverband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) zeigt sich besorgt über eine sich immer weiter enthemmende Gewaltspirale. Vorstandsmitglied Robert Kusche fordert im Interview einen Paradigmenwechsel bei Polizei und Justiz in Ostdeutschland in der Strafverfolgung bei rechten Gewalttaten und im Umgang mit rechten Aufmärschen.

Montag, 07. November 2022
Der VBRG warnt vor einer derzeitigen Zunahme rechter und rassistischer Gewalttaten.
Der VBRG warnt vor einer derzeitigen Zunahme rechter und rassistischer Gewalttaten.

Was hat sich mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hierzulande in den Opfer-Beratungsstellen gegen rechte Gewalt geändert?

Die Opferberatungsstellen registrieren seit Monaten eine Zunahme rechter und rassistischer Gewalttaten. Insbesondere in Regionen, in denen vermehrt Proteste stattfinden – die sich gegen Corona-Maßnahmen, die Aufnahme von Geflüchteten und gegen die Unterstützung der Ukraine richten – sind seit 2016 durchgängig rechte und rassistische Narrative unübersehbar und führen zu einer verfestigten extrem rechten Präsenz im öffentlichen Raum. Längst sind in vielen Orten dadurch Angstzonen für Menschen entstanden, die von Rassismus, Antisemitismus, rechter Gewalt und Bedrohungen betroffen sind – insbesondere für Geflüchtete, Journalist*innen und die demokratische Zivilgesellschaft.

Hängt das auch damit zusammen, dass bereits seit Beginn der Corona-Pandemie stabile gesellschaftliche Anker weggebrochen sind und Verschwörungsnarrative verstärkt Raum einnehmen?

Die Folgen der multiplen Krisen werden für die Menschen immer sichtbarer. Gleichzeitig versuchen Rechtsextreme, diese Situation für sich zu nutzen und ihren gesellschaftlichen Resonanzraum zu vergrößern. Auf all das treffen noch verstärkte Propaganda- und Desinformationskampagnen aus Russland. Eine aktuelle Studie von CeMAS – Center für Monitoring und Analyse zeigt eindeutig, dass pro-russische Propaganda in Deutschland seinen Einfluss vergrößern konnte und insbesondere in Ostdeutschland verfängt. Antisemitismus und auch Rassismus bilden dabei den Kern von Verschwörungsnarrativen. Gerade deswegen braucht es jetzt eine solidarische Politik, die vor allem diejenigen unterstützt, die tatsächlich armutsbetroffen sind und zu den besonders vulnerablen Gruppen gehören: etwa von Rassismus betroffene Menschen mit Behinderungen oder langfristigen Erkrankungen.

Politisch Verantwortliche dürfen bei der Lösung für soziale Fragen nicht auf der Klaviatur von Rassismus und Nationalismus spielen. Denn schon in den 1990er Jahren haben wir gesehen, wie mediale und politische Stimmungsmache den rassistischen Brandstiftern als Legitimierung gedient haben. Dieses Muster hat sich zuletzt in 2015/2016 wiederholt, als wir in Folge der Hetze gegen Geflüchtete hunderte von rechten und rassistischen Brandanschlägen und einen Anstieg rechter Gewalttaten auf das Niveau der 1990er Jahre gesehen haben. Es braucht dringend eine klare Abgrenzung nach rechts. Vor dieser Aufgabe steht nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch Politiker*innen aller demokratischer Parteien.

Woran machen Sie fest, dass sich gerade eine neue Welle rassistischer Angriffe und Anschläge  insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern Bahn bricht?

Rechte Gewalt und Rechtsterrorismus sind ein gesamtdeutsches Problem. Aber Ostdeutschland ist auch mehr als zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU weiterhin der Resonanzboden und Ausgangspunkt für neue rechtsterroristische Netzwerke und Täter*innen. Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass in Ostdeutschland erneut der Resonanzboden für Rechtsterrorismus entstehen kann: Eine schockierend niedrige Aufklärungsquote von lediglich 15 Prozent bei von Polizei und Justiz als Politisch motivierte Kriminalität (PmK) „Rechts“ erfassten Brandanschlägen, überlange Verfahrensdauern von bis zu sechs Jahren bis zur Verhängung rechtskräftiger Urteile und flächendeckende Angstzonen für alle, die im rechten Weltbild als Gegner*innen gelten.

„Ostdeutschland ist (…) der Resonanzboden und Ausgangspunkt für neue rechtsterroristische Netzwerke.“

Richten wir jetzt einen Blick auf die Aktualität: Die Brandanschläge auf Sammelunterkünfte für Geflüchtete in den letzten Wochen in Groß Strömkendorf (Mecklenburg-Vorpommern) am 19. Oktober, in Krumbach (Bayern) am 23. Oktober, in Bautzen (Sachsen) am 27. Oktober sowie Angriffe mit gefährlicher und illegaler Pyrotechnik am 31. Oktober in Großzössen bei Leipzig sowie am gleichen Tag in Dresden richteten sich jeweils gegen Gebäude, in denen sich unübersehbar Menschen aufhielten, sind höchst alarmierend. Hinzu kommen rechte Gewalttaten im Vorfeld, während und nach den vielen von Rechten und Neonazis dominierten so genannten „Spaziergängen“, deren Themen austauschbar sind: Die Feindbilder sind hingegen immer identisch: Rechte Teilnehmer*innen der Aufmärsche greifen gezielt als BiPoc sowie jüdisch gelesene Menschen, Journalist*innen und antifaschistische Gegendemonstrant*innen wie etwa in Gera am 3. Oktober oder in Leipzig am 26. September und 17. Oktober an.

Inwieweit finden Sie mit Ihrer Warnung Gehör und an wen adressiert sie sich?

Wenn wir jetzt beispielsweise sehen, dass die Versammlungsbehörde in Leipzig ausgerechnet am 7. November – also unmittelbar vor dem Gedenken an den 84. Jahrestag der Pogromnacht von 1938 – einen Aufmarsch von Neonazis in Leipzig mit Fackeln genehmigt (die Genehmigung für Fackeln wurde seitens der Behörde mittlerweile widerrufen, Anm. d. Red.) oder dass vielerorts – etwa in Sachsen im Erzgebirge überhaupt gar keine Polizei mehr bei den rechten Protesten anwesend ist – oder dass Landräte wie in Leinefelde (Thüringen) die Unterbringung von Geflüchteten nach Protesten von Rechts wieder rückgängig machen, dann haben wir tatsächlich nicht den Eindruck, dass unsere Warnungen Gehör finden.

Denn es muss elf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU wirklich jedem klar sein: Wer Neonazis und der AfD keine Grenzen setzt, sondern ihnen stattdessen Erfolgserlebnisse verschafft, ermutigt weitere rechte Gewalt, schafft die Grundvoraussetzungen für rechten Terror und entmutigt alle, die von Rassismus, Antisemitismus und rechter Gewalt täglich betroffen sind und sich – vielerorts ohnehin schon mit dem Rücken zur Wand - für eine demokratische Gesellschaft einsetzen. Besonders entmutigend und demokratiegefährdend ist es, wenn Polizist*innen und Justiz die rechten Narrative und Feindbilder übernehmen und die Zivilgesellschaft und Pressevertreter*innen nicht mehr vor rechten Angriffen bei den aktuellen Aufmärschen schützen. In den Beratungsanfragen von angegriffenen Medienschaffenden sehen wir, wie das rechte Narrativ von der ‚Lügenpresse’, die angeblich kein Anrecht auf Schutz nach Artikel 5 GG hat und bei rechten Protesten ungehindert gejagt und bedrängt werden kann, auch bei Polizeibeamten verfängt: Journalist*innen werden als Feindbild gesehen und behandelt. Das muss sich dringend ändern, denn sonst ist die Pressefreiheit in Ostdeutschland nicht mehr gewährleistet.

Genau wie Sie warnen auch diverse Verfassungsschutzbehörden vor der Gefährlichkeit der Entwicklung, die sich auf der Straße und in sozialen Medien abspielt. Reicht da noch Präventionsarbeit für eine wehrhafte Zivilgesellschaft oder inwiefern muss ein konsequent angewendeter Restriktionsapparat Anwendung finden?

Keine einzige Maßnahme unseres Forderungskatalogs an Gesetzgeber wie Exekutive zielt auf Repression ab, vielmehr verlangen wir schlichtweg, dass Polizei und Justiz die vorhandenen Mittel auch so einsetzt, dass Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt nicht länger im Stich gelassen werden.

Welche Rolle spielen lokale wie überregionale Medien in solch einer fragilen gesellschaftlichen Stimmungslage?

Von Journalist*innen erwarten wir, dass sie nicht ungeprüft Polizeimeldungen übernehmen, sondern mögliche rechte oder rassistische Tatmotive recherchieren und die Erfahrungen und Forderungen der Angegriffenen in den Mittelpunkt stellen. Wir dürfen uns einfach nicht daran gewöhnen, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer vermeintlichen Herkunft oder religiösen Überzeugungen, aufgrund ihrer Gender-Identität oder ihres sozialen Status angegriffen und verletzt werden. Die große Gefahr besteht darin, dass mediale Aufmerksamkeitsspannen immer geringer werden und tatsächlich schwere Gewalttaten aufgrund der Häufigkeit der Angriffe normalisiert werden.

Was ist die Botschaft Ihres Appells?

Mehr als zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU sehen wir ein erschreckendes Rechtsterrorismus-Analyse- und Demokratiedefizit bei Polizei und Justiz in Ostdeutschland.  Erfolgreiche Strafverfolgung gegen rechtsterroristische Gruppen in Ostdeutschland sind in den letzten sechs Jahren fast ausschließlich durch die Übernahme von Ermittlungsverfahren durch die Generalbundesanwaltschaft geführt worden. Ohne die Intervention von Opferberatungsstellen und Nebenklagevertreter*innen und die Übernahme der Ermittlungen durch die Generalbundesanwaltschaft wären zum Beispiel der rassistische und rechte Terror der „Gruppe Freital“ und „Revolution Chemnitz“ durch die sächsischen Behörden schlichtweg nicht gestoppt worden. In den anderen ostdeutschen Bundesländern sieht es keineswegs besser aus und in Berlin sehen wir derzeit, wie die über Jahre blockierte Strafverfolgung im Neukölln-Komplex und das Prinzip „Quellenschutz vor Strafverfolgung“ dafür sorgt, dass die Justiz und auch der Untersuchungsausschuss nur sehr mühsam voran kommen bei der Aufklärung der schweren Neonazi-Brandanschläge, etwa auf den Linken-Politiker Ferat Kocak oder den Buchhändler Heinz Ostermann.

Die Beratungsstelle forderte anlässlich der Tagung der ostdeutschen Innenminister*innen Ende letzter Woche einen Paradigmenwechsel bei Polizei und Justiz in Ostdeutschland in der Strafverfolgung bei rechten Gewalttaten und im Umgang mit rechten Aufmärschen. Aus Sicht des VBRG wären dafür acht Maßnahmen nötig:

  1. Dezentrale Unterbringung statt Sammelunterkünfte für Geflüchtete aller Herkunftsländer.
  2. Abschaffung der Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen für Geflüchtete.
  3. Ein Verbot von rechten Aufmärschen vor geplanten und bewohnten Flüchtlingsunterkünften aus Gründen der Gefahrenabwehr.
  4. Eine längst überfällige Erweiterung des Opferschutzes im Aufenthaltsgesetz durch ein humanitäres Bleiberecht für Opfer rassistischer und antisemitischer Gewalt ohne festen Aufenthaltsstatus (etwa Studierende, Geduldete) durch eine Erweiterung von Paragraf 25 Aufenthaltsgesetz. Es kann nicht sein, dass Täter*innen profitieren, weil abgeschobene Opfer nicht mehr als Zeug*innen in Strafverfahren aussagen können.
  5. Der Einsatz von Bereitschafts-Staatsanwält*innen, die Polizeieinsätze vor Ort begleiten und dafür sorgen, dass bei Propaganda- und Körperverletzungsdelikten bei rechten Demonstrationen auch tatsächlich Ermittlungsverfahren eingeleitet und Tatverdächtige vor Ort festgestellt werden.
  6. Verbindliche, regelmäßige und flächendeckende Schulungen für Polizist*innen in Bereitschaftseinheiten zu Artikel 5 des Grundgesetzes und Pressefreiheit sowie eine verbindliche Teilnahme an Seminaren der Menschenrechtsbildung, um der Verbreitung von rechten Narrativen entgegen zu wirken.
  7. Schaffung von Ermittlungsgruppen wie „Besondere Aufbauorganisationen” bei den Landeskriminalämtern und Staatsanwaltschaften mit dem Schwerpunkt „PmK-rechts“ zur schnellen und effektiveren Strafverfolgung bei Brandanschlägen und schweren Straftaten.
  8. Priorisierung der Verfahren in Fällen von rechter, rassistischer sowie antisemitischer Gewalt – insbesondere in Ostdeutschland – durch die Gerichte und Staatsanwaltschaften. Staatsanwaltschaften müssen als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ ihr Weisungsrecht gegenüber den Ermittlungsbehörden in Hinblick auf Nr. 15 Abs. 5 der Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren wahrnehmen.

Der VBRG setzt sich dafür ein, dass Betroffene rechter Gewalt bundesweit Zugang zu professionellen, unabhängigen, kostenlosen und parteilich in ihrem Sinne arbeitenden Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen erhalten. Derzeit sind 15 Beratungsstellen in 14 Bundesländern mit über 25 Anlaufstellen und Onlineberatung für Betroffene von rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt im VBRG e.V. zusammengeschlossen.

Das Interview führte Horst Freires.

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