Autoritarismus-Studie: West und Ost wachsen zusammen
Rund 35 Jahre nach der Wiedervereinigung gleichen sich West und Ost an: Rechtsextreme Einstellungen sowie Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus nehmen im Westen Deutschlands zu. Das geht aus der Leipziger Autoritarismus-Studie 2024 hervor, die heute vorgestellt wurde.
Programmatisch lautet der Titel der Studie von Oliver Decker und Elmar Brähler vom Kompetenzzentrum Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig: „Vereint im Ressentiment“. Seit 2002 untersuchen die Wissenschaftler mit ihrem Team alle zwei Jahre demokratiefeindliche, autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung.
Eine der Kernthesen in diesem Jahr: Im Westen Deutschlands vertreten mehr Menschen ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild und nähern sich damit den Einstellungen im Osten an. Vor allem im Westen zeigt sich also eine Radikalisierung. Ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben der Studie zufolge derzeit 4,6 Prozent der Ostdeutschen und 4,5 Prozent der Westdeutschen. Neben einem Anstieg im Westen hängt die Angleichung auch damit zusammen, dass manifeste rechtsextreme Einstellungen in Ostdeutschland seit Jahren schwanken und teilweise rückläufig waren.
Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie sinkt
Eine weitere Kernthese: Die Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Form der Demokratie in Deutschland nimmt ab. Zwar stehen laut Studie immer noch rund neun von zehn Deutschen hinter der Demokratie als Idee. Doch mit der Demokratie, „wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“, zeigten sich bei der repräsentativen Umfrage nur noch 42,3 Prozent der Befragten zufrieden, nach 57,7 Prozent zwei Jahre zuvor. Demgegenüber stimmen insgesamt knapp 20 Prozent der Befragten zumindest teilweise der Aussage zu, dass „unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform sei“.
Der Wert für eine Zustimmung zur Demokratie sei seit 2014 nicht mehr so niedrig gewesen, sagten die Wissenschaftler bei der Vorstellung heute in der Bundespressekonferenz in Berlin. Der Forschungsbereich und die Autoritarismus-Studie ähneln teilweise der Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Autoritarismus-Studie entstand in Kooperation mit der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall.
„Atmosphärische Verschiebung“ gen Westen
Während sich Ost und West in anderen Fragen teilweise angleichen, gibt es bei der Frage nach der Zufriedenheit mit der heutigen Demokratie – siehe oben – einen Unterschied. Mit 29,7 Prozent ist der Anteil der Ostdeutschen, die der heutigen Demokratie ein positives Zeugnis ausstellen, deutlich geringer als bei den Westdeutschen, wo sich 45,5 Prozent der Befragten zufrieden zeigen. Decker wies bei der Vorstellung der Studie dennoch darauf hin, dass sich vor allem im Westen eine „deutliche atmosphärische Verschiebung“ abzeichne.
Manifeste „Ausländerfeindlichkeit“ wurde in der Befragung bei 31,5 Prozent der Ostdeutschen und 19,3 Prozent der Westdeutschen festgestellt. Während diese Einstellungen im Westen in der Altersgruppe ab 61 Jahren am weitesten verbreitet sind, haben im Osten vor allem die 31- bis 60-Jährigen bei der Beantwortung des Fragebogens entsprechende Antworten zum Thema Ausländer und Migration präferiert.
Ausländerfeindlichkeit zentrales Element
Seit Beginn der Studienreihe im Jahr 2002 war die Zustimmung zu ausländerfeindlichen und chauvinistischen Aussagen den Forschern zufolge im Westen mehrheitlich zurückgegangen, während sie im Osten zum Teil deutlich schwankte. Im Westen stieg der Anteil mit einem geschlossenen ausländerfeindlichen Weltbild allerdings von 12,6 Prozent (2022) auf 19,3 Prozent – zuletzt war der Wert im Westen 2018 höher gewesen (21,5 Prozent).
„Die Ausländerfeindlichkeit und die Ablehnung von Migration sind zu einem zentralen Element der politischen Auseinandersetzung geworden. Die Ablehnung von Migranten wird von rechtsautoritären Parteien befördert, aber demokratische Parteien greifen dieses Motiv auch auf und bedienen es“, sagte Decker in einem Interview.
Wählerinnen und Wähler der AfD sehr rechts
31,1 Prozent der Befragten im Westen stimmen der Aussage zu, dass Deutschland durch „die vielen Ausländer überfremdet“ sei. Vor zwei Jahren waren es noch gut zehn Prozent weniger. In den ostdeutschen Bundesländern stieg die Zustimmung zu der Aussage im gleichen Zeitraum auf 44,3 Prozent. Ein geschlossen ausländerfeindliches Weltbild weisen mit 61 Prozent vor allem die Wählerinnen und Wähler der AfD auf. Unter den Befragten, die Sympathien für eine rechtsautoritäre Diktatur äußern, ist der Anteil der AfD-Wählerinnen und -Wähler laut Studie ebenfalls mit Abstand am größten.
Decker wies in einem Interview auch darauf hin, dass in früheren Studien antisemitische Einstellungen im Westen geringer oder rückläufig gewesen seien als im Osten. Antisemitismus und judenfeindliche Taten hätten nun jedoch auch im Westen zugenommen. „Sich antisemitisch zu äußern, wurde bisher stark sanktioniert. Unsere Ergebnisse könnten darauf hindeuten, dass Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden wieder einfacher geäußert werden können,“ sagte Decker. Das Phänomen scheint mit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 und den daraus resultierenden Ereignissen und Folgen zu korrelieren.