Prozessbeginn nach über fünf Jahren

Ausschreitungen in Chemnitz: Prozess gegen Neonazis gestartet

Fast fünfeinhalb Jahre nach einem schweren Angriff von Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet auf mehr als ein Dutzend Gegendemonstrant*innen während der rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz startete heute der Prozess. Doch in Chemnitz standen nur vier von neun Angeklagten vor Gericht.

Montag, 11. Dezember 2023
Anna-Louise Lang
Der Angeklagte Marcel W. vermummt heute am Landgericht Chemnitz, Foto: picture alliance/dpa | Jan Woitas
Der Angeklagte Marcel W. vermummt heute am Landgericht Chemnitz, Foto: picture alliance/dpa | Jan Woitas

Die Bilder vom August und September 2018 aus Chemnitz gingen um die Welt: Nach einem tödlichen Messerangriff kommt es zu großen rechten und rassistischen Mobilisierungen, Ausschreitungen und Angriffen. Die Opferberatung SUPPORT für Betroffene rechter Gewalt zählt 48 rassistisch, antisemitisch und rechts motivierte Angriffe in Zusammenhang mit den Mobilisierungen in nur einer Woche.

Auch am 1. September 2018 fanden große rechte Demonstrationen in Chemnitz statt. Die extrem rechte Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ hatte an das Karl-Marx-Monument mobilisiert, löste ihre Demonstration aber schon nach 40 Minuten auf. Sie schlossen sich der Demonstration verschiedener AfD-Landesverbände und von Pegida an. So liefen schlussendlich mehrere tausend Rechte geschlossen durch die Chemnitzer Innenstadt, unter ihnen u.a. der spätere Mörder von Walter Lübcke, Mitglieder verschiedener rechter Parteien, Aktivisten der Identitären Bewegung und Hooligans aus dem gesamten Bundesgebiet. Unter den Demonstrierenden befanden sich auch die Angeklagten, die sich heute vor dem Landgericht Chemnitz verantworten mussten.

Gleichzeitig mit der großen rechten Mobilisierung fand auch in der Chemnitzer Innenstadt eine Gegendemonstration unter dem Motto „Herz statt Hetze“ statt, zu welcher viele zivilgesellschaftlichen Vereine, Gewerkschaften und Parteien aufgerufen hatten. Nachdem die rechte Demonstration auf Höhe des Karl-Marx-Monumentes von der Polizei gestoppt wurde, lösten sich viele kleine Gruppen aus der großen Demonstration. Wohl auch die Gruppe der heutigen Angeklagten. Ihnen wird vorgeworfen, sich als Gruppe auf dem Weg gemacht zu haben, um auf der anderen Seite der Chemnitzer Innenstadt Gegendemonstrant*innen anzugreifen.

Nur vier statt neun Angeklagte

Im Oktober 2021 wurde Anklage gegen 27 Beschuldigte wegen Landfriedensbruch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in elf Fällen eröffnet. Angeklagt sind Beschuldigte aus Sachsen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Thüringen und Bayern. Das Verfahren wurde dann schlussendlich, aufgrund der großen Anzahl von 27 Angeklagten, in drei Strafverfahren aufgeteilt – zwei Verfahren für erwachsene Angeklagte und ein Jugendverfahren. So sollten am heutigen Verhandlungstag neun Angeklagte vor dem Chemnitzer Landgericht stehen.

Der Tag am Landgericht startete mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen vor dem Gerichtssaal. Als das Verfahren mit wenig Verspätung begann, saßen jedoch nur vier Personen auf der Anklagebank. Gegen zwei Angeklagte wurde das Verfahren schon im Vorhinein eingestellt, da diese in anderen Verfahren zu erheblich höheren Strafen verurteilt wurden. Gegen einen weiteren Angeklagten wurde das Verfahren vorläufig eingestellt, da dieser nicht auffindbar ist.

Teilnehmende der damaligen rechten Demonstration in Chemnitz, Bild: Symbolfoto
Teilnehmende der damaligen rechten Demonstration in Chemnitz, Bild: Symbolfoto

Ebenso im Verfahren angeklagt ist Steven Feldmann. Wie „Nordstadtblogger“ berichtet, ist der Dortmunder Neonazi und rechte Influencer Feldmann auf der Flucht. Er hätte am 17. November seine mehrjährige Haftstrafe antreten müssen, kehrte jedoch von einer „Abschiedsreise“ nicht zurück und wird nun mit Haftbefehl gesucht. Sein Anwalt war vor Ort und bestätigte, dass er von der Mutter seines Mandanten informiert wurde, dass dieser seine Haftstrafe nicht angetreten hat.

Ebenso angeklagt aber nicht vor Ort war Pierre B. Der Mann ist seit vielen Jahren fester Bestandteil der militanten rechtsextremen Szene in Braunschweig und einschlägig wegen Körperverletzungen vorbestraft. Sein Anwalt ließ am ersten Prozesstag erklären, dass B. sich in einer stationären Behandlung in einer psychiatrischen Klinik befinde und deswegen nicht am Prozess teilnehmen könne.

Es kam zu einer Prozesspause, in der der Richter mit Ärzt*innen telefonierte. Nach über einer halben Stunde war klar: Das Verfahren gegen Steven Feldmann aus Dortmund und Pierre B. aus Braunschweig wird abgetrennt. Das bedeutet, dass das Gerichtsverfahren gegen die übrigen vier Angeklagten weitergehen kann. Jedoch ließ sich an diesem Montag niemand zu den Vorwürfen ein.

Die Anklage

Den übrigen Angeklagten Mark B. aus Goslar, Timo B. aus Helmstedt, Marcel W. aus Chemnitz und Rico W. aus dem erzgebirgischen Drebach wird Landfriedensbruch in Tateinheit mit Körperverletzung in elf Fällen vorgeworfen.

Bei der Anklageverlesung wurde wiedergegeben, dass die Angeklagten und übrigen Beschuldigten in den anderen Verfahren sich gemeinsam nach der AfD-Demonstration zusammengetan haben, um Gegendemonstrant*innen der „Herz statt Hetze“-Kundgebung zu suchen. Dabei bestand die Gruppe laut Anklage aus mindestens 15 Personen, wuchs aber zeitweise auf mehr als 30 Personen an. Die Rechtsextremen trafen zuerst auf eine kleine Gruppe an Gegendemonstrant*innen, welche eine Fahne und ein Schild bei sich führte.

Laut Anklage rannten die Rechtsextremen auf die kleine Gruppe zu und griffen diese an. Geschildert wurde, dass die Gruppe Gegendemonstrant*innen eingekreist wurde, um diese einzuschüchtern. Dann folgten Schläge, sodass ein Betroffener eine Schnittverletzung am Auge erlitt, welche viermal genäht werden musste. Das Plakat sowie die Fahne wurden entrissen, zerstört und die Personen wurden mit Gegenständen beworfen.

Innerhalb einer Woche kam es laut lokaler Opferberatung zu knapp 50 rechten Angriffen in Chemnitz
Innerhalb einer Woche kam es laut lokaler Opferberatung zu knapp 50 rechten Angriffen in Chemnitz

Kurz danach kam es nur wenige Meter weiter zu einem ähnlichen Angriff. Die Angeklagten riefen laut „Adolf Hitler Hooligans“ und liefen erneut auf vermeintliche Gegendemonstrant*innen zu, zerstörten ein mitgeführtes Plakat, bedrohten die kleine Gruppe. Auch hier kam es laut Anklage mehrfach zu Schlägen in Gesichter und Tritte gegen die Betroffenen.

Nach einem weiteren ähnlichen Angriff kamen die Neonazis am Park der Opfer des Faschismus in der Chemnitzer Innenstadt an. Hier trafen sie auf eine Gruppe Menschen, welche gemeinsam mit einem Bus aus Marburg nach Chemnitz gefahren waren. Dies wurden massiv beleidigt und bedroht, auch hier nahmen die Neonazis zahlreiche Fahnen ab und zerstörten einige davon. Die teilweise kampfsporterprobten Neonazis schlugen und traten auf mehrere Menschen ein, sodass eine Person eine Schädelprellung erlitt. Weitere wurden aus rassistischen Motiven durch den Park gejagt.

Schleppende Ermittlungsarbeit

Als einzige Zeugin am ersten Prozesstag sagte eine ermittelnde Beamtin des Staatsschutzes der Polizei aus. Diese beschrieb, wie sie die Ermittlungsarbeit gegen die Neonazis über zwei Jahre geführt hat. Die Nebenklagevertreter*innen versuchten mehrfach zu ergründen, wie es zu der langen Ermittlungsdauer und somit auch zu der langen Dauer bis zu dem Gerichtsverfahren kommen konnte. Kati Lang, Nebenklagevertreterin im Verfahren sagte zu der langen Verfahrensdauer, dass die „sächsische Justiz […] die Betroffenen rechter Gewalt zum wiederholten Mal im Stich gelassen“ hätte. Die Polizistin erklärte, dass das Ermittlungsverfahren wegen der Angriffe auf Gegendemonstrant*innen keine Priorität gehabt hätte und die Ermittlungen so die meiste Zeit von nur zwei Beamt*innen geführt wurden.

Die Frau bestätigte die Inhalte der Anklageschrift und begründete dies vor allem mit wenigen Videoaufnahmen und Fotos der Angeklagten an diesem Tag. Als besondere häufige Quelle für Fotomaterial von dem Tag wurden die Fotoberichte von „Recherche Nord“ und „Exif“ genannt, auf welchen erkennbar sei, dass die Angeklagten schon gemeinsam auf der Demonstration waren. Diese Bilder hätten mit Videos der Taten verglichen werden können. Teilweise hätten Betroffene Täter auf diesen Fotos wiedererkannt und während ihrer Aussagen darauf aufmerksam gemacht.

Die Aussagen der ermittelnden Polizistin gingen nicht weit über die Erkenntnisse der Anklage hinaus. Jedoch konnte sie darstellen, dass es laut Aussagen der Neonazis drei Gruppen gab, die sich kannten und sich zu den Angriffen zusammengeschlossen hatten. Es gebe eine große Gruppe aus Dortmund und Braunschweig, welche gemeinsam aus Dortmund nach Chemnitz gefahren wäre und auf dem Weg weitere Personen aus dem thüringischen Kahla eingesammelt hätten. Ebenso gab es eine gemeinsame Anreise von Neonazis aus Dresden und Freital, welche sich später der anderen Gruppe anschloss. Auch die Beschuldigten aus Chemnitz und dem Erzgebirge würden sich untereinander kennen und trafen auf der Demonstration der AfD auf die anderen Angeklagten.

Der Nebenklagevertreter Onur Özata hatte vor Prozessbeginn gesagt, dass „der Prozess […] zeigen [wird], ob rechte Gewalt tatsächlich in unserem Land ernst genommen wird. Die schleppenden Ermittlungen sprechen bislang nicht dafür“. Für den Prozess sind bislang zehn weitere Verhandlungstage bis Ende Januar 2024 angesetzt.

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