Oberlandesgericht Dresden
Antisemitischer Verlag „Der Schelm“: Prozessauftakt gegen drei Angeklagte
Am Oberlandesgericht Dresden ist der Prozess gegen drei Angeklagte u.a. wegen Gründung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Volksverhetzung gestartet. Den drei Personen wird vorgeworfen, Mitarbeiter des extrem rechten Verlages „Der Schelm“ zu sein und damit im großen Stil volksverhetzende Schriften verbreitet zu haben.
Als Medienvertreter mit Kameras den Sitzungssaal betreten, verdecken die Angeklagten Enrico Böhm und Annemarie K., die für den Vertrieb und die Lagerhaltung zuständig gewesen sein sollen, ihre Gesichter. Der dritte Angeklagte Matthias B., mutmaßlich verantwortlich für die Infrastruktur des Verlages, sitzt hingegen aufrecht neben seinem Verteidiger.
Der Generalbundesanwalt zog im Jahr 2021 das Verfahren aufgrund dessen besonderer Bedeutung an sich. Laut Anklage vertrieb „Der Schelm“ zwischen 2018 und 2020 im Ausland gedruckte volksverhetzende und antisemitische Schriften.
Zeuge im Prozess gegen Lina E.
Enrico Böhm wird vorgeworfen, seit 2018 für die Lagerung und den Versand der Bücher zuständig gewesen zu sein. Dafür soll er laut Bundesanwaltschaft Lagerräume für die tausenden Bücher in Bad Lausik angemietet haben. Böhm ist ehemaliger NPD-Stadtrat aus Leipzig und u.a. schon wegen Volksverhetzung und Körperverletzung verurteilt wurden. Er kennt den Gerichtssaal des Oberlandesgerichtes in Dresden gut. Erst im Herbst 2021 trat er als Zeuge im Prozess gegen Lina E. und weitere Angeklagte auf. Auch Böhm war im Oktober 2018 vor seinem Wohnhaus angegriffen worden.
Die ebenfalls Angeklagte Annemarie K., die Ex-Freundin von Böhm, soll diesen bei dem Versand der Bücher unterstützt haben. Ebenso wie Böhm wird ihr vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung gegründet und daran beteiligt gewesen zu sein, Schriften mit volksverhetzenden Inhalten, die den öffentlichen Frieden stören, verbreitet zu haben.
792 Exemplare von „Mein Kampf“
Dem Angeklagten Matthias B. soll laut Anklage der Bundesanwaltschaft eine „herausgehobene Funktion“ in der Vereinigung zugekommen sein. B. ist langjähriger NPD-Aktivist aus Gröditz. Er soll 2019 in das Verlagsgeschäft eingestiegen sein und in der Folge eingegangene Bestellungen bearbeitet sowie Arbeitsaufträge ausgelöst haben. Darüber hinaus sei er verantwortlich gewesen für den Kontakt zur Druckerei in Ungarn und die technische Infrastruktur in der Lagerhalle in Bad Lausik, auch als Grafiker sei er tätig gewesen. Er wurde, ebenso wie Böhm, 2022 festgenommen und kam kurzzeitig in Untersuchungshaft. Ihm wird die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Volksverhetzung vorgeworfen.
Die Bundesanwaltschaft schätzt den Umsatz des Verlages auf mehr als 800.000 Euro, die zwischen 2018 und 2020 erwirtschaftet sein worden. Bei einer Durchsuchung im Dezember 2020 wurden zusätzlich meist volksverhetzende Bücher mit einem Verkaufswert von mehr als 913.000 Euro beschlagnahmt. Die Staatsanwaltschaft verliest eine lange Liste volksverhetzender und zu großen Teilen antisemitischer Literatur, welche bei der Durchsuchung aufgefunden wurde: 792 Mal „Mein Kampf“ von Adolf Hitler als unveränderter Nachdruck, 761 Mal „Der Giftpilz“ von Ernst Hiemer oder beispielsweise „1000 Jahre Adolf Hitler“ von Léon Degrelle mit fast 1.000 Exemplaren. Alle Angeklagte geben an, Aussagen dazu machen zu wollen.
Matthias B. – vom Grafiker zum Aussteiger
Der Vorsitzende Richter Schlüter-Staats beginnt mit Matthias B. Über eine Stunde lang lässt der sich vor Gericht ein. Er führt sehr ausführlich aus, wie er schon als Jugendlicher in die rechte Szene kam, sich schnell kameradschaftsähnlich organisierte und mit seinem damaligen Umfeld geschlossen 2004 bis 2005 in die damalige NPD eintrat. Von der Zeit in der jetzigen „Heimat“ spricht B. sehr romantisierend, erwähnt statt politisch motivierter Straftaten gemeinsame Fußballturniere und Kegelabende.
Schon sehr früh habe er Adrian P., den späteren Gründer des Verlages „Der Schelm“ durch die „Deutsche Stimme“ (DS), Presseorgan der „Heimat“ kennengelernt. Er beschreibt P. als intelligent und eine Art „Vaterfigur“. Er selbst hätte 2007 eine Ausbildung zum Mediengestalter bei der „Deutschen Stimme“ begonnen und dabei die Beziehung zu P. verstärkt. Auch als dieser 2009 dort kündigte, hielt der Kontakt. 2010 hätte auch er dann bei der DS gekündigt, wäre aus der NPD ausgetreten und versuchte sich später selbst als Verleger. Mit „libergrafix“ veröffentlichte er 17 Bücher, zwei davon wurden schnell indiziert. Das Projekt beschreibt er heute eher als „Schuldenberg“.
Mehrheit der Verkäufe über Amazon?
Er beschreibt, wie es ihm „zu heiß war“, als sich Adrian P. bei ihm meldete, um mit ihm gemeinsam einen Verlag zu gründen. Er versuchte sich weiterhin mit eigenen Projekten, die jedoch alle scheiterten. Zu dieser Zeit wäre er schon für P. als Grafiker tätig gewesen. Doch als der ihn 2018 wiederholt ansprach, ob er für ihn Bücher verschicken würde, lehnte er erneut ab. Erst 2019 wäre er zum Verlag „Der Schelm“ gekommen. P. wolle die Rechnungen nicht mehr händisch schreiben und stellte Matthias B. für 1.000 Euro im Monat an, dies für ihn zu erledigen. Er richtete ein Programm und in der Lagerhalle in Bad Lausik einen Scanner und Drucker ein, ließ diese Aufgabe dann automatisch erledigen und betreute dies technisch. In dieser Zeit sei er weiterhin als Grafiker für den Verlag tätig gewesen, setzte die Bücher und gestaltete die Einbände. Auch das Logo hätte er nach den Vorstellungen von P. entworfen. Die Bücher des „Schelms“ seien auch über Amazon und Thalia verkauft worden. Sicherlich 70 Prozent der Verkäufe wären über Amazon erfolgt.
Sehr ausführlich beschreibt Matthias B. aber auch eine Änderung, die 2020 begonnen hätten. Nach der Trennung von seiner damaligen Freundin sei er in ein Loch gefallen. Er fing an, weniger als Grafiker für den „Schelm“ zu arbeiten. Nach der Durchsuchung im Dezember 2021, so sagt er aus, wollte er schon eine Einlassung schreiben. Nach der Untersuchungshaft hätte er sich beim Aussteigerprogramm EXIT gemeldet und wäre seitdem in einem Prozess.
Matthias B. als Verräter bezeichnet
Mit Unterstützung der Organisation hätte er sich einen neuen Verteidiger gesucht und zahlreiche Informationen an die Ermittlungsbehörden übergeben. So hätte er die Informationen aus einem Zugang zu einem MSN- und Google-Account, aus dem er zahlreiche E-Mails sichern konnte, weitergereicht und habe im Februar 2022 ein 37-seitiges PDF mit Informationen zum Versandweg, der Adresse von P. sowie Scheinfirmen in Spanien übergeben. Auch vor Gericht sagte B. umfangreich über Gewinne des Verlages, Versandwege, Abläufe und weitere Mitarbeiter*innen aus. Auf dem Telegram-Account des Verlags nennt Adrian P. ihn seither einen Verräter.
Trotz der ausführlichen Aussage möchte er in seiner Mitarbeit keine politische Tat sehen. Matthias B. gibt zu, antisemitisch eingestellt gewesen zu sein, dies hätte die Arbeit jedoch nur ermöglicht und wäre nicht seine Motivation gewesen. Er versichert immer wieder, dass Geld sein einziges Ziel gewesen sei.
Enrico Böhm – Freundschaftsdienst für P.
Auch Enrico Böhm ließ sich vor Gericht ein und sagte aus. Er und Adrian P. kannten sich auch von dessen Zeit bei der DS. Böhm war zu diesem Zeitpunkt Mitarbeiter für die NPD im Landtag. P. hätte ihn angesprochen, ob er den Versand des „Schelm“ übernehmen wolle, da er zu diesem Zeitpunkt schon einen eigenen Webshop namens „Lokis Truhe“ betrieb. Böhm stellte es vor Gericht so dar, dass er selbst auf der Suche nach einer neuen Lagerhalle war und sich bereit erklärte, in dieser auch die Bücher vom Verlag „Der Schelm“ zu lagern und als ein „Freundschaftsdienst“ von dort zu verschicken.
Dazu hätte er die Lagerhalle in Bad Lausik angemietet. Er hätte nie Zugriff auf den Webshop oder die Datenbanken gehabt, sondern nur zwei Mal pro Woche, dienstags und donnerstags, Bücher für P. verschickt. Als das Lager nicht mehr ausreichte, hätte er eine größere Halle gemietet – Adrian P. hätte dafür anteilig die Miete gezahlt und die Portokosten übernommen. Er hätte sich eher „wie ein kleiner Amazon-Arbeiter“ gefühlt, die Strafbarkeit der Bücher und die Tragweite wäre ihm nicht bewusst gewesen. Er hätte auch „Gummibärchen“ für seinen Freund verschickt, die Bücher des „Schelms“ jedoch nie gelesen. Zuerst hätte er die Pakete immer zu einem Paketshop gebracht, nach der Reportage von STRG_F dann jedoch in verschiedene Paketshops in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und dafür von P. eine „Gefahrenzulage“ verlangt.
„Ist das Ihr Ernst?“
„Herr Böhm, ist das Ihr Ernst?“, fragt Richter Schlüter-Staats ein wenig aufgebracht. Auf Nachfrage des Gerichtes erklärt Böhm, dass er für seinen Versand nur zwei bis drei Regale in der Lagerhalle nutzte, mindestens 47 weitere seien für den „Schelm“ reserviert gewesen. Bis zum Ende bleibt Enrico Böhm jedoch dabei, dass er von der Existenz des Verlages, trotz seiner langjährigen Freundschaft mit P., erst ab Beginn des Versandes erfahren habe. Die Inhalte wären ihm nicht bewusst gewesen, da die Bücher „ja eingepackt waren“. Der Richter verliest daraufhin einige Titel und Böhm gesteht schließlich ein, dass er hätte ahnen können, dass das „etwas Hetzendes sein könne“. Seit der ersten Durchsuchung 2020 hätte auch er keinen Kontakt mehr zu P.
Böhm sagte weiter aus, dass von Anfang an Annemarie K. beim Versand geholfen habe. Diese wirkte über dessen gesamte Aussage aufgeregt, aber ruhig. Lediglich als Böhm zu ihrer Beziehung befragt wurde, schüttelte sie wütend und ungläubig den Kopf und drehte sich von ihm weg.
Die Rolle von Adrian P.
P., Gründer des „Schelm“ -Verlages, ist wohl die Person, die beim ersten Verhandlungstag am schlechtesten wegkommt. Sowohl Matthias B. als auch Enrico Böhm verlieren über ihren ehemaligen Geschäftspartner kein gutes Wort. Immer wieder betonen beide Angeklagten, dass es P. nur um Gewinnmaximierung gehen würde. Was mit seinen Geschäftspartner*innen nach den Durchsuchungen und Verhandlungen passiere, sei ihm egal. Böhm bezeichnete sich in seiner Aussage als „Fragment“ in P.s System, welches er wahllos austauschen könne.
Adrian P. selbst ist in diesem Verfahren nicht angeklagt. Nach ihm wird mit einem internationalen Haftbefehl gefahndet. Wie die beiden Angeklagten Matthias B. und Enrico Böhm war auch P. in der NPD aktiv und produzierte später rechtsextreme Musik. Laut B. befinde er sich spätestens seit 2016 – mit kurzen Unterbrechungen – in Russland. Seit P. dort geheiratet habe, hätte er vor Ort auch eine Perspektive und werde „nie wieder EU-Boden“ betreten. Aktuell führe sein ehemaliger Geschäftspartner das Geschäft aus Russland weiter.
Online-Shop weiterhin erreichbar
Bis zu Prozessbeginn verlaufe das Bestellen von volksverhetzenden Büchern in dem Webshop weiter problemlos. Der Online-Shop ist in der Tat weiterhin erreichbar. Ob der Neonazi sich je vor einem deutschen Gericht verantworten muss, bleibt unklar.
Aktuell sind im Verfahren gegen die drei Angeklagten acht weitere Verhandlungstage am Oberlandgericht Dresden eingeplant. Im morgigen Prozesstag wird die Vernehmung des Angeklagten Böhm fortgesetzt.